„Ist er nicht das hübsche Mädchen?“

Knabenliebe in Florenz

Eine historische Reise zur Pädosexualität und ihrer Einbettung in eine frühere Gesellschaft. Greifbar in den Predigten des Bernhard von Siena gegen die „Sodomiten“, und die Erziehung der Jungen zu solchen – durch ihre Eltern, die stolz auf ihre hübschen, verführerischen Knaben waren, und auf ihr unverschämtes Benehmen.

Nach Michael J. Rocke*

Die Predigten des Bernhard von Siena stellen wahrscheinlich den ausgedehntesten und lebhaftesten Kommentar dar, welchen wir von einem einzelnen Zeitgenossen zur Sodomie [männliche Homosxualität; Montebas.] im spätmittelalterlichen Italien kennen… Nur wenige Aktivitäten in der Toskana des 15. Jahrhunderts erregten mehr Aufmerksamkeit und riefen mehr Repression hervor, als die männliche Homosexualität es tat. Innerhalb seiner eigenen Lebenszeit hatte Bernhard weitreichende Veränderungen im legalen und rechtspraktischen Status der Sodomie gesehen, was eine erhöhte und überall gegenwärtige Furcht vor dem „verachtenswerten Laster“ andeutet. Einstmals kaum verfolgt, obwohl seit langem illegal, wurden konsensuale sexuelle Beziehungen zwischen dem männlichen Geschlecht in Florenz mit zunehmender Häufigkeit vor Gericht gebracht und verurteilt.

Die lokalen Autoritäten in der Toskana… unternahmen verschiedene Anstrengungen, um homosexuelle Aktivitäten zu unterdrücken, darin eingeschlossen die offizielle Unterstützung der weiblichen Prostitution, neue und härtere Gesetze, und eine wirksamere polizeiliche Überwachung. Nur wenige Jahre nach Bernhards apokalyptischer Botschaft schufen Florenz (1432) und Lucca (1448) weltliche Obrigkeiten, deren einzige Aufgabe es war, das Verbrechen der Sodomie zu verfolgen. Das Ausmass dieser neuen Institutionen war enorm. In Florenz brachten die „Offiziere der Nacht“ (Ufficiali della Notte), wie dieser Gerichtshof genannt wurde, während ihrer siebzigjährigen Amtszeit bis 1502, mindestens zehntausend Männer und Knaben vor Gericht, und verurteilten geschätzte zweitausend wegen homosexueller Beziehungen.

Abb.1. Game of Civettino - salver - zwei kleine Jungen sich an Penis greifend. Nicht wirklich ein Bild von dem, worum es hier geht. Soll nur einen Eindruck davon geben, wie locker es die Florentiner um die damalige Zeit mit den Sitten nahmen. Das Bild stammt von einem Tablett, wie es Frauen als Gratulation zu einer Geburt geschenkt wurde. 

Aber es ist nicht nur der zeitliche Zusammenhang mit der sich intensivierenden Kampagne, welche Bernhards Predigten so fesselnd macht. Während sie vielleicht teilweise bezweckten, einen breit abgestützten Peitschenschlag auf die schleppende Arbeit der Behörden auszuüben, scheinen seine Predigten doch auch mit einem instruktiven Ziel verbunden gewesen zu sein. Das heisst: es ging darum, das Bild des „Sodomiten“ schärfer in den Brennpunkt zu rücken und die sozialen und kulturellen Bedingungen auszumachen, die dieses „unnatürliche“ sexuelle Verhalten hervorbrachten. Dieser Artikel rekonstruiert diese „Persona“ [„Typ“] des Sodomiten, wie sie von Bernhard in seinen Florentiner und Sieneser Predigten gesehen wurden. Dem Prediger folgend werde ich die Entwicklung dieser Persona durch die charakteristischen Stufen des Lebens nachzeichnen, von der Kindheit und Adoleszenz zur Jugend, und schliesslich zur Reife, wenn der Sodomit – nach Bernhard – sich selber betrogen haben wird, indem er sich entschieden hat, nicht zu heiraten… Die Sicht dieses Predigers war natürlich negativ, häufig durch offensichtliche Gemeinplätze und polemische Übertreibungen gekennzeichnet. Jedoch, um zu erregen und zu überzeugen, erfand Bernhard keine neuen Bilder. Eher baute er auf bereits vorhandene auf, dadurch überzeugend, dass sie schon vertraut waren. Bernhards „Sodomit“ war kein moralisches Abstraktum, sondern eine Figur, die seine Mit-Toskaner leicht erkannt haben dürften.

„EIN WAMS, WELCHES NUR BIS ZUM NABEL REICHT, UND STRÜMPFE MIT EINEM KLEINEN TEIL VORNE UND EINEM HINTEN, SO DASS SIE VIEL FLEISCH FÜR DIE SODOMITEN ZEIGEN.“

Bernhard war überzeugt, dass Sodomiten gemacht, und nicht geboren wurden, und dass mehr als irgend etwas das toskanische Heimleben anzuklagen war. Deshalb denunzierte der Prediger heftig die zeitgenössischen Praktiken der Kinderaufzucht, welche, da war er sicher, die Knaben in homosexuelle Aktivitäten hinein steuerten. Ob es wegen ihrer Nachlässigkeit und des Mangels an Liebe war, oder wegen ihrer Eitelkeit und Gier, Bernhard verdammte die Eltern als die „Zuhälter“ ihrer eigenen Söhne.

Die jungen Knaben lernten über homosexuelle Aktivität in so jungem Alter wie fünf oder sieben, warnte der Prediger, und waren dadurch prädisponiert, wenn sie das Alter der Mündigkeit [12 Jahre] und der Pubertät erreichten. Er behauptete, dass einige Jungen davon direkt von ihren Vätern lernten, die ihrerseits Sodomiten waren. Andere pickten Wissen über Sodomie von den endlosen Witzen in den Strassen oder unter ihren Schulkollegen auf, oder – wahrscheinlicher – zu Hause, wo ihre Eltern unbekümmert ihre sodomitischen Freunde einluden und nie deren andauerndes „Geschwätz über Sodomie und Lüsternheit“ entmutigten. Am Arbeitsplatz oder in der Schule, zu Hause oder auf der Piazza, das Gespräch über Sodomie war überall, so schien Bernhard plausibel zu machen, und ihre blosse Erwähnung war schon verderblich. „Sie sind noch nicht trocken hinter den Ohren,“ klagte er, „und schon sind sie beschmutzt und Sodomiten! Schaut sie mal an, Väter und Mütter, es ist erstaunlich, wie zart sie noch sind, und schon sind sie geschändet durch Sodomie!“

Wenn die Jungen später vom Reden über Sodomie zur Aktion übergingen, versuchten einige Eltern ihre Söhne damit zu verteidigen, dass ihre sexuellen Missetaten nur unschuldige bübische Marotten seien. Aber diese „boys will be boys“ Attitüde konnte dem Prediger nicht genügen, und er erinnerte seine Zuhörer daran, dass die Kirche, wenn ein Junge im Alter von neun oder zehn Jahren die natürliche Vernunft annahm, seine sexuelle Lust als Todsünde betrachtete. Florentiner Knaben würden speziell früh reifen, lehrte er, weil der moralische Zustand der Stadt so heruntergekommen sei, dass sie vorzeitig in die Bekanntschaft mit der Sünde eingeführt würden. „Erstens mag der Junge in einer solchen Vorbedingung stehen und [bereits] ein solches Verständnis haben, dass er sehr schnell und früh tödlich sündigen kann. Zweitens hängt es manchmal auch vom Zustand seines Geburtslandes ab, und wenn irgend ein Land verschmutzt ist, dann ist es das von Florenz.“ Auch wenn der Jugendliche letztlich für seine Handlungen selber verantwortlich gemacht wurde, so machte Bernhard doch klar, dass seine Eltern dafür anzuklagen waren, dass sie ihn der „tödlichen“ Gefahr [im Sinne der Begegnung mit der Todsünde] ausgesetzt hatten.

„Ich hörte von einem sehr wertvollen Mann, der sagte, er glaube dass mehr (Jungen) im Alter von acht bis fünfzehn Jahren ruiniert werden, als in einem anderen Alter. Und nur etwas sei zu beklagen: dass die Eltern und jene, die für Führung und Korrektur dieser Jugendlichen verantwortlich sind, verharmlosend über ihre Sünden denken, und sie darum nie zu einem Geständnis veranlassen, und sie gehen lassen, wegen ihrer Ignoranz. ‚Aber sie sind ja noch Knaben!‘. Das genügt nicht.“

Die Entwicklung in Kinderjahren interessierte jedoch Bernhard weniger. Seine wirkliche Aufmerksamkeit galt den adoleszenten Jungen. Nachdem er durch die lockeren Reden während seiner Kindheit schon zu homosexueller Aktivität neigte, und ihm durch seine Eltern vergeben wurde, wenn er zu experimentieren begann, kannte die Energie eines Jungen keine Grenzen mehr, wenn er einmal die Adoleszenz erlangt hatte. Von vierzehn bis fünfundzwanzig verloren die jungen Männer jeden Sinn für Vernunft, so führte Bernhard aus, auf Grund ihrer lasterhaften Geilheit.

Die Florentiner mussten daran nicht eigens erinnert werden. Die lokale Tradition hatte schon lange diese Altersgruppe mit Störungen, Gewalttätigkeit und leichtfertiger Sexualität verbunden. Verzweifelnd darüber, dass die Eltern an sich den Willen oder die Autorität hatten, diese „ungezügelten Pferde“ zu beherrschen, aber statt dessen elterliche Komplizenschaft zeigten, richtete Bernhard seine Aufmerksamkeit auf die missratenen Jugendlichen. Er räsonnierte, dass die florentinischen Adoleszenten eine stärkere und wirkungsvollere Führung bräuchten, weil ihre Eltern ihre eigenen moralischen Verantwortlichkeiten verlassen hätten.

Abb.2 zeigt zwei Jungen beim „Spiel der Eule“, bei dem es auf schnelle Reaktion ankam. Ich zeige es hier, weil es die typischen Kleider veranschaulicht, die weiter unten beschrieben werden: Strümpfe, die den Rumpf freilassen („geschlitzt“ sind), der vom Wams nicht gedeckt wird, so dass er eines eigenen Tuches bedarf, welches oft kaum das Nötigste bedeckte, wie ein weiteres Bild im Teil II zeigen wird.

Beweismaterial aus gerichtlichen Quellen beleuchtet das sexuelle Verhalten dieser Altersgruppe und hilft, die Sorgen unseres Predigers zu erklären. Allerdings stammt es aus einer 50 Jahre späteren Zeit. Während Bernhards Kampagne zwischen 1420 und 1430 stattfand, findet sich das beste Beweismaterial von 1478 bis 1483. In dieser Periode machen Adoleszente zwischen zwölf und zwanzig mindestens die Hälfte der nahezu tausend männlichen Florentiner aus, die wegen homosexueller Aktivitäten bei den „Beamten der Nacht“ angezeigt wurden. Wenn man diese Gruppe mit ihrer Alterskohorte in der allgemeinen Bevölkerung vergleicht, dann kann grob geschätzt werden, dass ungefähr einer von zwölf Florentiner Jungen aus dieser Altersgruppe dem Sodomie-Gericht in dieser Zeitspanne zur Aufmerksamkeit gelangte. Diese substanzielle Zahl zeigt natürlich nicht das wahre Ausmass homosexueller Aktivität in Florenz an. Aber der hohe Anteil an Jugendlichen… deutet darauf hin, dass solche Aktivität weit verbreitet war unter jungen männlichen Florentinern.

Die Daten gestatten auch einige nähere Ausführungen zum Zusammenhang zwischen Alter und der Rolle, die der jeweilige Angeklagte vorher gespielt hatte. Das Florentiner Sodomiegesetz kategorisierte Sodomie in „aktive“ und „passive“ Rollen, und das Gericht folgte dem im Allgemeinen. Die überwiegende Mehrheit der verfolgten Fälle beinhaltete einen erwachsenen Mann, der die „aktive“ Rolle einnahm, mit einem „passiven“ Adoleszenten. Nur 10 Prozent aller Fälle beinhaltete zwei Adoleszente unter dem legalen Alter von achtzehn, und es gab keinen Fall mit einem aktiven Adoleszenten und einem passiven Erwachsenen. Von den als „passiv“ Bezeichneten waren fast 95 Prozent zwischen zwölf und neunzehn Jahre alt. Zwei zehnjährige Knaben waren die jüngsten der Passivengruppe, während die ältesten zwanzig und dreiundzwanzig waren. Ihr mittleres Alter lag bei fünfzehn. Es waren diese männlichen Teenager, auf die Bernhard abzielte, wenn er – uns ein lebhaftes Bild des Verhaltensmusters überlassend – lamentierte: „Die fanciulli [Knaben] sind die Idole der alten Männer, die sie für Gott halten.“

Bernhard war überzeugt, dass in der Toskana die Eltern selber nicht nur das Rohmaterial für die Idole der Sodomiten lieferten, sondern es in seiner wesentlichen Form auch gestalteten. Das taten sie, so klagte er an, indem sie ihre Söhne mit eitlen und provokativen Kleidern anzogen, und meinten, sie machten ihre Jungen attraktiv, während sie sie in Wirklichkeit nur in verführerische Ziele für Sodomiten verwandelten. Wussten die Eltern nicht, so fragte er sie, dass es eine schwere Sünde war, „ihnen ein Wams anfertigen zu lassen, welches nur bis zum Nabel reicht, und Strümpfe mit einem kleinen Teil vorne und einem hinten, so dass sie viel Fleisch für die Sodomiten zeigen?“ Für die Eltern, die ihren Söhne nie etwas über Gott oder ihre Seele beibrachten, sondern nur darüber, wie sie ihre Gefährten hintergehen konnten, und wie Geld machen oder ausgeben, war es befriedigend genug, so behauptete er, „sie einfach hinaus zu schicken mit durchsichtigen Hemden, mit kleinen Wamsen, welche nicht die Hälfte des Körpers bedecken, mit provokanten Kleidern und über den Beinen geschlitzten Strümpfen, mit Geflechten im Haar.“

TEIL II

Er warnte die Eltern vor den wahrscheinlichen Konsequenzen, wenn sie derart aufreizend herausgeputzte Jungen nach draussen schickten. Verführerische Knaben, so drohte der Prediger, riskieren mit Gewalt genommen und in den Strassen vergewaltigt zu werden. „Sendet eure Mädchen hinaus, stattdessen,“ drängte Bernhard die Mütter, „die sind in keinerlei Gefahr, wenn ihr sie unter solche Leute lässt.“ Bernhard war so verstört von der Aussicht, dass Knaben vergewaltigt werden könnten, dass er einräumte, die Gewalt gegen junge Mädchen sei weniger gefährlich und sündig. „Wenn es keinen anderen Weg gibt,“ schloss er, „stimme ich dem als weniger böse zu.“

Wie auch weitere Moralisten des 15.Jahrhundert-Florenz hob Bernhard oft die Mütter als die eigentlich Schuldigen hervor, wenn es um die Versuchung ging, ihre Söhne reizvoll herauszuputzen. „Oh Frauen,“ schimpfte er, „auch ihr macht eure Söhne zu Sodomiten! Wenn ihr sie hinaus schickt, brezelt ihr sie zu sehr auf! … Habt ihr keine Sorge, dass ihr euch selber zu ihren Zuhältern macht?“ Die Frauen gäben ihrer eigenen Eitelkeit nach, behauptete der Skandalpriester, wenn sie ihre Jungen in Spiegelbilder von sich selber zu verwandeln versuchten, und dabei ihre eigenen Söhne entmännlichen. „Oh töricht, ihr närrischen Frauen, es scheint, dass ihr euren Sohn wie euch selber aussehen lässt, so dass er für euch ganz schick ist: ‚Oh, ist er nicht der gutaussehende Kerl?‘ und sogar, ‚Ist er nicht das hübsche Mädchen! Oimmé, oimmé, oimmé!’“

Während er manche Kritik für diese mütterlichen Exzesse erübrigte, erkannte er, dass auch Väter, nicht weniger als Mütter, es gut fanden, dass ihre gut gekleideten, attraktiven Söhne in den Strassen die Blicke auf sich ziehen konnten. „Ihr alle, Frauen und Männer, sündigt zu viel,“ rügte er, „indem ihr eure Söhne so herausgeputzt losschickt, dass ihr Sodomiten aus ihnen macht.“ Männer waren genau so verantwortlich für diese jungen Knaben, die in Mädchen verwandelt worden waren. „Bestraft sie,“ drängte er die Väter, „haltet sie nachts zu Hause und nehmt sie mit euch… nahe bei euch, und schickt sie nicht nach draussen, verlockend wie Jungfrauen.“ Tatsächlich unterstellte Bernhard, dass Väter, die Männer in einer Gesellschaft waren, in der Frauen wenig zählten, einen speziellen, eitlen Stolz zeigten, „wenn sie sahen, wie [ihre Söhne] besessen, geliebt, bewundert und bedient wurden“ durch andere Männer. „Bürger des Teufels“ – in den Augen des Priesters.

Abb.3. Maso Finiguerra – David. Ca. 1450. Die Zeichnung illustriert recht genau das „Problem“ von Bernhard: Oben ein sehr eng geschnittenes, kurzes Wams, von unten her ganz eng anliegende Beinkleider, von denen jedes nur ein Bein bedeckt, wodurch die Körpermitte frei bleibt, und oft nur unzureichend durch einen Stofflappen bedeckt wird.

Warum können Eltern eher Vergnügen als Zorn empfinden, wenn ihre adoleszenten Söhne die Aufmerksamkeit erwachsener Männer gewonnen haben? Für Bernhard war die Antwort klar. Beide, Väter und Mütter, konnten viel gewinnen, wenn ihre Söhne einen einflussreichen Verehrer anzogen. „Es gibt einige Eltern, die erlauben ihren Söhnen jedes mögliche erbärmliche, böse und sündige Ding zu tun, und der Grund, warum sie es erlauben, liegt darin, [damit] zu öffentlichen Ämtern oder Geld zu kommen.“ Wie der Priester ausführt, „erlauben es Mütter, damit sie zu Geld kommen, und Väter erlauben es, um den Einfluss der richtigen Leute zu bekommen.“ Andere Eltern wiederum, vielleicht weniger ambitiös, oder nicht so entschieden, ihre Söhne zu prostituieren, nehmen dennoch Geld oder Geschenke von den Liebhabern ihrer Söhne im Austausch gegen Schweigen, und um einen öffentlichen Skandal zu vermeiden…

[…]

Bernhard betonte, dass wenn ein Knabe oder Jugendlicher einmal begann, sich in homosexuellen Aktivitäten zu engagieren, er es schwierig finden würde oder zu attraktiv, um aufzuhören, und dass es dann sehr wenig gab, was die Eltern oder andere tun konnten, um ihn zum Wandel zu bewegen. „Wenn er anfängt, in Sodomie involviert zu werden… dann sind unsere Hände gebunden.“ […] Wenn Jugendliche einmal von diesem unheilvollen Ruin gepackt worden sind, werden sie nur noch mit Gewalt geheilt…“ Trotz dieser Schwierigkeiten drängte er die Jugendlichen, sich zu ändern, solange sie noch Zeit hatten, denn wenn sie im Alter von 32 noch immer involviert waren, dann könne man jede Hoffnung aufgeben.

Tabelle: Alter und Rolle der von den „Offizieren der Nacht“ im Jahre 1480 wegen homosexueller Beziehungen Angeklagten.**

AlterPassivAktivAlterPassivAktiv
10202102
11002208
12502312
13722404
14902501
151302604
16922706
17322802
18552904
19313002
2019

Bernhards Insistieren auf das Alter von 32 als kritischer Punkt kann nur im Lichte zweier Erwägungen verstanden werden. Florentiner demografische Studien zeigen, dass genau während der Zeit, als Bernhard in Florenz predigte, das durchschnittliche Heiratsalter um 30, 31 herum lag. Das bräuchte noch keine Schlüsse aufzudrängen hinsichtlich Bernardo’s Argument, käme nicht ein zweiter Punkt dazu: Der Priester beharrte ebenso streng darauf, dass Männer, die nicht heirateten, Sodomiten waren oder wurden.

[…]

Auch war Bernhard nicht allein, wenn er eine Beziehung zwischen einem bestimmten Alter, Junggesellentum und Homosexualität annahm. Schon bevor Bernhard diese Verbindung machte, hatte die Regierung von Florenz 1421 versucht, unverheiratete Männer zwischen 30 und 50 von öffentlichen Ämtern auszuschliessen, vermutlich ein verhüllter Versuch, Homosexuelle von Ämtern fernzuhalten, wie auch, die Bürger zum Heiraten zu drängen. Die Verweigerung politischer Privilegien war keine geringe Drohung in Florenz, wo das Innehaben von Ämtern ein individuelles wie familiales Kennzeichen von sozialem und politischem Prestige war. Der Versuch von 1421 schlug fehl, aber als Bernhard drei Jahre später ankam, war die Diskussion noch im Gange. „Alle die, die nicht spirituell in Keuschheit leben, und kein Weib haben,“ verlangte er, „treibt sie aus der Stadt, nehmt ihnen das Recht auf Ämter. In dieser Region, die durch die Pest heimgesucht worden und sich ihrer stagnierenden Bevölkerung sehr wohl bewusst war, fiel offenbar jeder Mann, der nicht heiratete, wenn die meisten seiner Altersgruppe es taten, unter den Verdacht der Sodomie.

Basierend auf den Protokollen der „Beamten der Nacht“ kann Rocke sodann darlegen, dass tatsächlich volle dreiviertel der zwischen 1478 und 1483 wegen Sodomie inkrimi-nierten Männer im Alter von 19 bis 70 unverheiratet waren.

Der Prediger hatte eine Erklärung für dieses Verhalten bereit. „Der Sodomit hasst die Frauen,“ behauptete er, ja „er kann den Anblick der Frauen nicht ertragen.“ Und die Frauen umgekehrt mochten die Sodomiten nicht.

[…]

Diese wenigen Sodomiten, die tatsächlich heirateten, und ihre Ehefrauen warnte Bernhard, dass die antagonistischen Impulse und das sexuelle Desinteresse zur Quelle endloser ehelicher Streitigkeiten und Glücklosigkeit würden… Darum warnte er die Väter, ihre Töchter nicht an Sodomiten zu verheiraten. Einmal warnte er gar, dass eine Frau besser tot wäre, als mit einem Sodomiten zusammen leben zu müssen… „Oh Frau, bring es in deinen Kopf, dass du niemals fähig sein wirst, ihn zufrieden zu stellen, wenn er in seinem Laster gefangen ist.“… Er spottete über die vergeblichen Versuche von Frauen, ihren Ehemann durch den Gebrauch von Kosmetika, Zahnweissmittel, provokative Kleider und andere Eitelkeiten zu verführen: „Eine Frage an jene Frauen, die denken, dass sie der Elite angehören… Was denkt ihr, was ihr tut, wenn ihr all diese Dinger und Stile trägt, welche Prostituierte tragen?“ Und, ihre Antwort vorwegnehmend: „Ich tue es, um meinem Ehemann zu gefallen, damit ich attraktiver bin, so dass er nicht in Sodomie verfällt.“…

[Obwohl Bernhard zweifellos als Argument gegen die Homosexualität letztlich darauf verwiesen hätte, dass diese gegen die göttliche Ordnung verstosse und darum Sünde sei, überwog in seinen Predigten dieser Aspekt keineswegs. Die stärkste Betonung legte er vielmehr auf die damalige demografische Krisensituation, in der sich die Toskana befand.]

Wenn er immer wieder seine Zuhörer auf den dramatischen Bevölkerungsschwund hinwies, so legte Bernhard die Schuld direkt auf die Sodomiten. „Ist euch nicht klar“, so fragte er, „dass dies der Grund ist, warum ihr die Hälfte eurer Bevölkerung verloren habt in den letzten 25 Jahren? Die Toskana hat weniger Leute als irgend ein Land der Welt, nur wegen dieses Lasters…“ Diese Sicht beeinflusste unzweifelhaft auch die Behörden bei ihren politischen Antworten auf die Sodomie. In Florenz zum Beispiel war die Schaffung eines speziellen Sodomiegerichts 1432 klar eine von vielen Massnahmen, welche – als Ganzes genommen – die Institution der Ehe stärken und zur Zeugung ermutigen sollten. Wie spätere Verurteilungen zeigen, spielten solche Gesichtspunkte weiterhin eine grosse Rolle bei der Tätigkeit der Gerichte. Noch 1480 verurteilten die Beamten viermal mehr alleinstehende als verheiratete Männer.

[Dabei war das Alter immer ein spezieller Gesichtspunkt bei der Verurteilung von Tätern und vermutlich in der ganzen policy der Verfolgung von Sodomie und der Bremsung des Geburtenrückgangs. In einer frühen Phase dieser Kampagne wurden offenbar jüngere Täter stärker bestraft als ältere. (siehe Rocke S. 23f.). Später, im Jahre 1514, wurde ein Gesetz geschaffen, welches geringere Strafen für Täter zwischen 18 und 25 vorsah, als für ältere Täter. 1527 wurden die Strafen für Männer über 30 noch einmal empfindlich heraufgesetzt, womit, wie Rocke meint, nur ein in Kultur und Rechtspraxis längst etablierter Sonderstatus der Jugend zusätzlich verdeutlicht wurde.]

Bernhard aber hat unabhängig von dieser staatlichen Verfolgung den Finger auf das Selbstbild der „Sodomiten“ gelegt:

„Ihr seht ein solch entzücktes Vergnügen unter den passionierten Sodomiten, die – Vergnügen um Vergnügen – sich von Gott immer mehr entfernen. Sie haben alle Scham verloren, und nichts kümmert sie.“ [gekürzt übersetzt durch montebas. Bitte in Kopien angeben.]

___________________________________

*) Rocke, Michael J. (1988) Sodomites in Fifteenth-Century Tuscany: The Views of Bernardino of Siena. In: Journal of Homosexuality, Vol. 16, Nr.1, S.7-32. https://doi.org/10.1300/J082v16n01_02 (Gekürzt und übersetzt durch Montebas. Text zwischen […] enthält durch Montebas zusammengefasste Textpassagen oder Erläuterungen.)

**) Tabelle: Aus dem florentinischen Catasto.  Die Zahlen wiedergeben nur einen Teil der 1480 inkriminierten Fälle . Rocke entnahm offenbar diejenigen Fälle, die genügend Angaben enthielten. Siehe Rocke, Fussnote 18.

Bilderquellen (in der Reihenfolge der Abbildungen):

Abb.1: Game of Civettino (zwei kleine Jungen, sich an Penis greifend) Giovanni di Ser, gen. Scheggia, ca. 1450. Museo di Palazzo Davanzati, Florence. http://www.wga.hu/index1.html (search ‚Scheggia‘)

Abb.2: Giovanni di Ser Giovanni; 1406–1486. “Il gioco del civettino”, c. 1450. http://www.akg-images.co.uk/archive/Il-gioco-del-civettino-2UMDHURD6KSP.html Siehe auch: Sebregondi, Ludovica (2002) Clothes and Teenagers: What Young Men Wore in Fifteenth-Century Florence. In: Eisenbichler, Konrad (ed.): The Premodern Teenager: Youth in Society, 1150-1650. Toronto, Ont. (Centre for Reformation and Renaissance Studies, Victoria University). S.31f. Hier geht es direkt zur Textstelle: https://books.google.ch/books?id=2NQnbW8CW54C&pg=PA32&lpg=PA32&dq=game+of+civettino&source=bl&ots=mRuxu2-ZpV&sig=XVAPMXJZCbn9B6nqiCHhFOsxL6Y&hl=de&sa=X&ved=0ahUKEwjKr_bW1r3LAhVGcHIKHQeiBjgQ6AEIKDAB#v=onepage&q=game%20of%20civettino&f=false

Abb.3: Maso Finiguerra (zugeschrieben). David, ca 1450. Gabinetto Disegni e Stampe degli Uffizi 42F. Kopiert aus: Sebregondi, Ludovica (2002) Clothes and Teenagers… (Siehe oben). Dort auch weitere Kritik durch Bernardino di Siena, die sich sehr detailliert auf die Kleider bezieht.


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