»Nicht selten sind aber die Opfer selber aktiv oder verführend vorgegangen.«

Zu Rudolf Wyss, „Unzucht mit Kindern“

Als eine der frühesten quantitativen Studien darf, mindestens im deutschsprachigen Raum, die 1967 von Rudolf Wyss vorgestellte gelten. In seiner Arbeit zur „Unzucht mit Kindern“, wie das damals noch benannt wurde, stand zwar eher die Täterschaft im Vordergrund, doch zeichnet es den speziellen approach der Studie aus, dass auch Angaben zu den „Opfern“ darin Eingang fanden, und vor allem: dass Muster des gegenseitigen Zugangs der beiden Parteien beschrieben wurden. Dabei scheint Wyss noch eine Freiheit zu geniessen, die 15 Jahre später verschwinden sollte.

Das Material für seine „Untersuchungen zur Frage der sogenannten Pädophilie“, wie der Untertitel seines Buches lautete, bestand – analog zur RasmussenStudie – in den Gerichtsakten, Krankengeschichten und psychiatrischen Gutachten über 160 im Kanton Bern wohnhafte Täter.

In seiner Zusammenfassung der Opfergruppen kommt Wyss auf 20,6% Inzestfälle (Delikte mit eigenen Kindern, Großkindern, unter Geschwistern und Halbgeschwistern). Dieser Anteil scheint relativ hoch. Rund die Hälfte von diesen Tätern hatte regelrechten Geschlechtsverkehr mit eigenen Töchtern. Wyss: „Im Inzestverhätnis ist der Beischlaf um ein Vielfaches höher als bei den anderen Tätergruppen.“

Interessanter ist nun, was der Autor zu den Beziehungen zwischen Tätern und Opfern zu sagen hat:

»Die älteren Kinder verstehen, um was es geht, sind z.T. schon erfahren und als Teilhaber einer intimen Beziehung mehr oder weniger tauglich, sie müssen oft umworben werden, bis sie nachgeben, und nicht nur mit einem Stück Schokolade oder ein paar Rappen, wie dies nicht selten gegenüber kleinen Kindern der Fall ist.« (S.34)

Gerne wüsste man Genaueres zu den Kriterien der “Tauglichkeit“, die Wyss vor Augen hatte. Meinte er nur Merkmale der körperlichen Reife? Eventuell eine subjektive, also aus der Sicht des Täters gegebene Tauglichkeit (z.B. Aussehen)? Oder meinte er damit eine gewisse Geneigtheit des Opfers, den Wünschen des Täters entgegenzukommen?

Dass Letzteres gemeint sein könnte, deutet sich in der Fortsetzung des Zitats an:

»Nicht selten sind aber die Opfer selber aktiv oder verführend vorgegangen. 10 von den Probanden, die Unzucht mit Knaben verübten, wurden von diesen einzeln oder gruppenweise aufgesucht, weil es sich herumgesprochen hatte, daß z. B. beim „Zweifrankenfritz“ etwas zu holen sei. Dabei kam es fast regelmäßig zur Bildung einer Art von „Zirkel“, in dem auch gespielt, Musik gehört oder gebastelt, allerdings oft auch gezotet wurde.« (S.34)

Ein ähnliches Muster stellte Wyss auch bei Mädchen fest:

»In 12 [!] Fällen wurden den Probanden, die mit Mädchen delinquierten, vom ersten Opfer noch andere Kinder zugeführt. Hier handelt es sich in der Regel um verwahrloste und neugierige Mädchen in der Vorpubertät [!], jedoch auch um jüngere, die spielerisch die größeren nachahmten.« (S.34)

Dies erinnert an einige Fälle, wie schon Rasmussen sie gefunden hatte, und wie sie noch deutlicher von Bender und Blau beschrieben wurden (in diesem Blog, Link siehe unten).

Noch Ende der 60er galt es also nicht als unwissenschaftlich, offen über die „Findungs-“ oder „Gruppierungsmuster von Tätern und „Opfern“ zu sprechen. Rückblickend stellt es schon eine Eigenheit von Wyss‘ Arbeit dar, dass sie in ein- und derselben Studie von Tätern und Opfern handelt, und dass darin auch Verhalten und Motivation der Opfer als Charakteristikum des jeweiligen Handlungsfeldes beschrieben werden, wo es zu den sexuellen Annäherungen kam. Spätere Studien beschränken sich weitgehend auf ein verdünntes „Ursache-Folge“ Schema, wobei die Tat des Täters die gegebene Ursache bildet, und die Studie am Opfer die Folgen misst.

Noch ein letztes Zitat von Wyss:

»In keinem [ausser einem] kam es zu irgendwie gewaltsamen Handlungen

Auch diese Feststellung braucht nicht zu erstaunen. Sie steht aber im Kontrast zum längst eingeschliffenen Diskurs, der solche Handlungen nur als eingebettet in einen Gewaltkontext diskutieren lässt, geleitet vom Konzept der „sexuellen Gewalt“ oder der „sexualisierten Gewalt“, welches mehr wertend als analytisch ist [zusammengefasst von montebas; in Kopien und Zitationen bitte angeben.].

________________

Unten nun einige Textstellen aus den oben erwähnten früheren Blogbeiträgen, in denen die von Wyss viel später wieder festgestellten Muster des Zugangs von Tätern zu Opfern bzw. von Opfern zu Tätern ein erstes Mal beschrieben werden:

Aus: „Krankhafte Wirkungen… hat man überhaupt nicht nachweisen können.“

»Kasus Nr.52…Seit ihrem 10. Jahre ist sie unsittlich gewesen und trieb in den darauffolgenden Jahren Unsittlichkeit in grossem Stile… sie gestand ein, dass sie mit verschiedenen erwachsenen Männern Verhältnisse gehabt habe… hat das Mädchen zur Ausführung der Handlung beigetragen durch einladendes Wesen, sie hat sich sogar zum Teil unaufgefordert entblösst. Manchmal hat sie Geld erhalten.«

»Kasus Nr.53… war gegen 13 Jahre alt… Sie berichtete selbst, dass sie auch früher mit Männern Unzucht betrieben… dass das Mädchen ziemlich aktiv gewesen ist.«

Aus: Die Reaktion der Kinder auf sexuelle Beziehungen mit Erwachsenen. (Bender und Blau) https://montebas.blog/2023/03/12/die-reaktion-der-kinder-auf-sexuelle-beziehungen-mit-erwachsenen/

»Fall 14: Ewald H… 11 Jahre… Die allerneueste Erfahrung war mit einem 40 Jahre alten… [er] und der Erwachsene praktizierten gegenseitige Masturbation, Fellatio und Sexualverkehr zwischen den SchenkelnDer Junge gab zu, dass er sexuelle Aktivitäten genoss.«

»Fall 4: Virginia S., 7 Jahre alt… wurde aufgedeckt, dass sie häufig Besuche beim Hausmeister des Apartmenthauses erstattete, für sexuelle Beziehungen. Die Beziehungen beinhalteten Cunnilingus, gegenseitige Masturbation und Fellatio…«

»Fall 6: Bernice S., 9 Jahre altes Kind… Vor 4 Monaten war entdeckt worden, dass sie sexuelle Beziehungen mit einem verheirateten Mann hatte, der in ihrem Haus logierte, und sie besuchte ihn weiterhin, als er auszog…«

____________________

Quelle: Wyss, Rudolf: Unzucht mit Kindern.
Untersuchungen zur Frage der sogenannten Pädophilie. Berlin usw. 1967 (Springer).

Siehe auch: https://books.google.ch/books?id=HLOhBgAAQBAJ&pg=PP6&dq=wyss+unzucht&hl=de&source=gbs_selected_pages&cad=2#v=onepage&q=wyss%20unzucht&f=false



Comments

Hinterlasse einen Kommentar