…und die hohen Missbrauchsraten von früher.
Der Leser muss sich jetzt noch kurz von obigem Bild lösen. Ich möchte vorne anfangen (und dann zurück gehen). Vorne heisst hier: beim Fakt, dass im Deutschland der 50er/60er Jahre die Missbrauchsraten viel höher waren als heute. Dafür werde ich spekulativ eine Erklärung präsentieren.
Zur Erinnerung: Hat der sexuelle Kindesmissbrauch langfristig zugenommen oder nicht? (Blogbeitrag, wo ich diese Frage aufgeworfen und diesen Blog hier schon angekündigt habe.)

Die Raten für CSA waren in den 60ern und 50ern rund doppelt so hoch wie heute (relativ zur Bevölkerungsgrösse). Zu diesem Punkt wollte ich eine Erklärung versuchen, und die stelle ich nun vor. Was mir dazu vorschwebte, fand ich auf der Suche im Internet: eine Statistik über die Wohnverhältnisse in einer grossen deutschen Stadt in den 50er Jahren (hier von München). Sie wiedergab Zustände, die inzwischen schwer vorstellbar geworden sind. Die Menschen wohnten nicht einfach nur auf weniger Quadratmetern pro Person als heute, sondern es lebten häufig Menschen, die einander fremd waren, auf dichtem Raum, in derselben Wohnung oder im selben Zimmer zusammen. Der Hauptgrund soll damals im Bombardement der Städte während des Kriegs gelegen haben. Jedoch begegnet man solchen oder noch krasseren Zuständen in noch früherer Zeit, ohne vorausgegangenes Bombardement. Davon weiter unten.
Die Verdichtung erfolgte durch Untervermietung eines Wohnungsteils, eventuell nur eines Zimmers (oder von noch weniger, siehe unten), an einen Untermieter. Untermieter konnten mehrere Personen sein, sie konnten zusammen eine Familie bilden, oder es konnte sich um eine einzelne Person handeln, wahrscheinlicher um eine männliche. Das war dann der Zimmerherr. Zimmerherren waren oft auch Kostgänger beim Hauptmieter, es konnte ihnen im Wohnungsinserat sogar „Familienanschluss“ angeboten worden sein, oder auch nicht.
Zimmerherren waren z.B. Schüler, Studenten, Praktikanten, oder Fremde, die länger in der Stadt verweilten, oder Angehörige eines vom Fremdenverkehr abhängigen Gewerbes, die für die Dauer der Saison in München Unterkunft fanden, u.a.m.
Hatte der Hauptmieter Kinder, ergaben sich wohl mannigfache Kontaktgelegenheiten für den Zimmerherrn, umgekehrt ebenso für den Hauptmieter, wenn die Untermieter Kinder mitbrachten. Daraus könnte sich ein Stück weit schon die viel höhere polizeilich gemeldete Missbrauchsrate der 50er/60er Jahre erklären. Die Dichte schaffte zweifellos Kontaktmöglichkeiten.
Und dass solche Verhältnisse, welche Gelegenheiten boten, häufig genug vorkamen, um die hohen Raten jener Periode zu erklären, zeigt folgender Fakt: In München soll es 1950 statistisch auf zwei Mietparteien, die Wohnungsinhaber waren, eine Untermietpartei getroffen haben.i
Mischverhältnisse
Nicht immer war der Zimmerherr wirklich Herr eines eigenen Zimmers. Es kam auch vor, dass er mit fremden Leuten, evtl. mit dem Kind des Mieters, in einem Zimmer schlief, wenn auch jeder über sein eigenes Bett verfügte. Bei A. Rasmussen, die wohl die erste einigermassen wissenschaftlichen Studie zum sexuellen Kindesmissbrauch vogelegt hat, findet sich in Material aus dem Oslo von nahe der vorletzten Jahrhundertwende, folgender Fall:
»Kasus Nr. 39 – Von ihrem Lehrer erhält sie das beste Zeugnis, sowohl was die Schule betrifft als auch ausserhalb derselben. In ihrem 11. Lebensjahre hatte ein junger Mann 5-6 Mal Coitus vestib. mit ihr. Der Mann… hatte seit… Monaten das Schlafzimmer mit dem Mädchen, einem… Dienstmädchen und einem Knecht geteilt. [Er] hatte sein eigenes Bett, hatte sich aber, wenn beide allein waren, in das Bett des Mädchens gelegt. Das kleine Mädchen fragte anfangs, was er wollte, leistete aber keinen Widerstand. Später liess sie es ohne Widerspruch geschehen. Sie erzählte einer Freundin von dem Verhältnis, schliesslich kam es dem Lehrer zu Ohren und die Schulverwaltung meldete es der Behörde…« [Quelle siehe weiter unten, Fussnote vii]
Vom Zimmerherrn zum Schlafburschen
Hatte der Zimmerherr immerhin ein eigenes Zimmer und beliess damit auch die übrigen Mitwohnenden in ihren eigenen Gemächern, so „drang“ – im Unterschied zu ihm – der Schlafgänger oder Schlafbursche tiefer in die intimen Regionen ein. Man findet ihn so ungefähr von der vorletzten Jahrhundertwende an weiter zurück. Mit ihm teilten sich die Hauptmieter nicht nur ihre eigene Mietwohnung, sondern mindestens einer von ihnen sein Bett. Der Schlafgänger war oft ein Nachtschichtarbeiter, dem tags das Bett eines nachts darin Schlafenden gegen ein bescheidenes Entgelt überlassen wurde.
Im Gegensatz zu dem, was man vielleicht meinen könnte, sollen Haushalte mit Kindern besonders häufig Schlafgänger aufgenommen haben.i Statistisch gesehen gab es bei kleineren Wohnungen viel mehr Schlafgänger als bei größeren, da man in kleineren Wohnungen kein einzelnes Zimmer mehr abgeben konnte. Dazu blieb nur noch der Schlafplatz, das heisst das Bett..ii
Im Jahre 1875 soll sich der Anteil der Berliner Wohnungen mit Schlafgänger auf nahezu ein Viertel belaufen haben.
Interessanterweise hat man damals und auch heute noch rückblickend die Häufigkeit dieser Schlafgängerverhältnisse in sozialmedizinischer Hinsicht und auch unter dem Aspekt der familiären Intimität problematisiert, ohne aber die Sprache auf die wohl gesteigerte Wahrscheinlichkeit sexueller Kontaktanbahnungen mit Kindern zu lenken. Das trifft auch z.B. auf den einschlägigen Wikipedia-Artikel zu:
„Die Schlafgänger trugen zur weiteren Verschlechterung der Wohnsituation bei, da sie die familiäre und die intime Beziehung der Wohnungsinhaber störten. Außerdem entstanden hygienische Probleme, was die Verbreitung von Epidemien, Syphilis, Tuberkulose und Krätze beförderte.“ ii
Und hier nun das Bild zu meinem Beitrag, welches das Gesagte lebhaft illustriert und suggestiv meiner Spekulation Vorschub leistet:

Das Bild zeigt klar zwei Eigenschaften der sozialen Realität „Schlafgänger“: die krasse Überbelegung der kleinen Wohnungen, und die Verwischung der Intimsphären. Das erste, dessen der heimkehrende Schlafgänger ansichtig wird (und mit ihm der Betrachter), ist die Frau mit entblössten Brüsten. Der visuelle Bezug zwischen den Zweien ist spannungsgeladen und mehrdeutig. Zusätzlich erotisch aufgeladen wird die Szene durch das sich waschende Mädchen rechts, auf das der Blick des Schlafburschen (und mit ihm des Betrachters) wohl als nächstes fallen wird, zumal das Mädchen seine Waschung offensichtlich ohne Hemmungen vornimmt. Im Hintergrund links bemerkt man sodann drei Kinder im gleichen Bett, während vorne links ein grösserer und ein kleinerer Junge sich in eine Schlafgelegenheit teilen, wobei der Grössere seine Arme ebenso zufällig wie besitzergreifend um den Kleineren gelegt hat.
Weiter zu den Zahlen: „Im Jahre 1880 boten 32.289 Haushalte Unterkünfte für insgesamt 59.087 Schlafleute. Es gab Untermieter, die mehr als einen Schlafgänger hatten, und es kam auch vor, dass ein Bett an zwei Personen untervermietet wurde, so dass jedem davon genau 8 Stunden Zeit zur Nutzung blieben, und „das Bett nie kalt wurde“.
Die „Normalität“ solcher Wohnverhältnisse und ihre vermutbare Nähe zu sexuellen Kindeskontakten wurde von einem anonymen Autor in eine berühmte, obwohl anrüchige, rein fiktive Geschichte eingebunden. „Josephine Mutzenbacher“, so ihr Titel, erschien 1906 in Wien, und gilt wohl bis heute als beste, oder einzige Erzählung von literarischem Niveau zum Thema „Kinder mit früher promiskuitiv-sexueller Sozialisation (und ihre unbeschwerte Karriere in die Prostitution)“. Wie man sich leicht vorstellen kann, war das Buch in den gut hundert Jahren seines Bestehens mehreren Zugriffsversuchen der Zensur ausgesetzt. Es hat sie bis heute überlebt – ein Wunder, wenn man so will, welches vor allem seiner hohen literarische Qualität geschuldet sein dürfte.
Nachdem die fiktive Ich-Erzählerin ihre ersten sexuellen Erlebnisse im höheren Kleinkindesalter geschildert hat, breitet sie in ihrer vulgären und brutal offenen Sprache die zweite Episode aus, die zugleich die erste mit einem Erwachsenen ist; eine Abfolge sehr lebhafter Ereignisse mit einem Schlafgänger:
„…zog ein neuer Bettgeher zu uns… Er war schon ein älterer Mann, so zirka fünfzig Jahre alt… Wenn alle weg gegangen waren, blieb ich oft mit ihm allein… Er war gleich von Anfang an sehr freundlich zu mir, streichelte mich an den Haaren, fasste mich unters Kinn, und drückte mich schmeichelnd an ihn, wenn ich ihn begrüsste. Wie wir nun wieder einmal allein waren, wurde ich sehr geil… Ich ging zu Herrn Ekhart – so hiess er – in die Küche, liess mich wieder von ihm streicheln… Und wieder muss etwas in meinem Blick gewesen sein, etwas, das ihm die Besinnung raubte… mein Lächeln mochte wohl alles gesagt haben. Denn jetzt griff er schon ein wenig fester zu…“ v
Dienstmädchen, Kindermädchen, Hausbedienstete
In der sozialen Mittel- und Oberschicht gab und gibt es noch eine weitere Kategorie von familien-fremden Leuten, die die Grenzen der häuslichen Intimität durchbrachen, nämlich die Bediensteten. Unter ihnen hatten vor allem jene, die mit der Kinderaufzucht beschäftigt waren, also Kindermädchen, im 19. Jh. einen schlechten Ruf. So wurde ihnen nachgesagt, gerne die ihnen anvertrauten Kleinkinder zu masturbieren, um sie schläfrig zu stimmen, wenn sie nicht zeitig einschlafen wollten oder konnten. Der Vorwurf traf mitunter auch klar in die sexuelle Befindlichkeit der Bediensteten. Da sie in der Regel unverheiratet waren und es vielleicht oft auch blieben, hätten sie sich an den Kindern bedient, als sexueller Ersatz für erwachsene Partner, die ihnen verwehrt blieben.
Botengänger, Ladengehilfinnen, Nachbarn
Die Grenzen der Familie waren nicht nur von aussen nach innen und im Innern des Hauses durchlässig, sondern auch von innen nach aussen. Vor allem in den einfacheren Schichten war es ganz normal, dass Kinder zeitweise das Haus verliessen, um in andern Häusern tätig zu werden, als Botengänger, Ladengehilfinnen und anderes mehr, oder auch einfach, um Nachbarn ihre Aufwartung zu machen (zum Zeitvertreib – TV gab es noch nicht; Tablets auch nicht, und auch keine Smartphones).
Das zeigt sich noch bis ins letzte Jahrhundert hinein. Mehrere der von Bender & Blau an ihrer New Yorker Psychiatrie-Klinik beobachteten Kinder hatten ihre sexuellen Erfahrungen bei einem Nachbarn gemacht, den sie mehr oder weniger regelmässig zu besuchen pflegten:vi
»Fall 6: Bernice S., ein 9 Jahre altes Kind [IQ 92], war ein Verhaltens- und ein Sexproblem. Sie war Waise und lebte bei einer Tante, die während des Tages arbeitete und von daheim wegblieb … Vor 4 Monaten war entdeckt worden, dass sie sexuelle Beziehungen mit einem verheirateten Mann hatte, der in ihrem Haus logierte, und sie besuchte ihn weiterhin, als er auszog. Ihr Verhalten [in der Klinik; mb.] war durch auffällige Überaktivität, Rebellion gegenüber der Aufsicht, Mürrischkeit und Trotz gekennzeichnet … Sie war von Sex in einem unüblichen Grad in Beschlag genommen, und wurde schon bald von den anderen Kindern kritisiert und geächtet, weil sie bei ihren Aktivitäten exhibitionistisch war … Ihre Ruhelosigkeit und Reizbarkeit konnten eindeutig einer übergrossen sexuellen Spannung zugerechnet werden … [Sie] schien den Zusammenhang zwischen ihrer Hyperaktivität und sexueller Spannung zu verstehen.«
»Fall 7: Helen P., ein 9jähriges Mädchen [IQ 76], war … seit dem Tod ihrer Mutter … in Obhut einer Sozialagentur … Kürzlich wurde sie in einem benachbarten Haus beim Sexspiel mit einem 60 jährigen Boilermann ertappt, und als sie befragt wurde, sagte sie aus, dass sie ähnliche Kontakte mit einem anderen Mann und mit 2 Jungen gehabt hatte. Sie sagte, dass das zum ersten Mal passierte, als sie vor etwa einem Jahr ein öffentliches WC an einem Strand benutzen musste.«
Als Laufjunge/“Mädchen“ oder Ladengehilfinnen lernten manche Kinder eine grosse Zahl weiterer Leute kennen, die eine mehr oder weniger autoritäre, gleichzeitig aber auch sehr informell zugängliche Stellung ihnen gegenüber hatten.
Damit verbunden war auch ein informeller, sanfter und niedrigschwelliger Eintritt ins Erwerbssystem, was den Kindern dann auf der anderen Seite schon den ersten Anfang eines Erwachsenenstatus verlieh, und von daher die Aufnahme sexueller Aktivität mit Erwachsenen nicht ganz so krass erscheinen liess.
Hier drei weitere Beispiele aus der Studie von A. Rasmussen,vii die anhand von Gerichtsprotokollen und medizinischen Gutachten einschlägige Fälle untersuchte:
„Fälle, wo das Mädchen die auffordernde oder einleitende war…“
»Kasus Nr.51… Seit ihrem 12. Jahre ist sie im Hafen auf die Schiffe gegangen, um Kuchen zu verkaufen. Sie hat einen schlechten Ruf. Die Strafsache entstand infolge einer Anzeige der Schule bei der Polizei wegen Unzucht eines bestimmten Mannes an dem Mädchen und ihrer Freundin. Das Verbrechen bestand in wiederholtem Coitus. Das Mädchen bekannte selbst vor Gericht, dass sie von ihrem 13. Jahre ab Prostitution getrieben habe, um Geld zu bekommen. Sie behauptet, das erste Mal vergewaltigt worden zu sein… später hat sie sich mit vielen erwachsenen Männern eingelassen…Das Gutachten lautet, dass sie defloriert war und an einer mehrere Monate alten Gonorrhoe litt. [Mann, 47, zu 8 Monaten Gefängnis verurteilt – hatte sich gleichzeitig gegen ein anderes kleines Mädchen vergangen.]«
»Kasus Nr.52… Die Eltern gehören zu einer … Dissidentengemeinde und das Mädchen hat „eine Art Religionsunterricht“ erhalten. Sie ist umhergegangen und hat religiöse Traktate verkauft. Seit ihrem 10. Jahre ist sie unsittlich gewesen und trieb in den darauffolgenden Jahren Unsittlichkeit in grossem Stile. Sie hatte … einen schlechten Ruf … und sie gestand ein, dass sie mit verschiedenen erwachsenen Männern Verhältnisse gehabt habe. Die Eltern wurden … unterrichtet und erstatteten Anzeige gegen 19 Personen … Der erste, mit dem das Mädchen Umgang hatte, war ein verheirateter Mann von ca. 50 Jahren – sie war zu dieser Zeit 9-10 Jahre alt und liess sich jeden zweiten Tag mit ihm ein. Inzwischen bekam sie Kleinigkeiten von ihm, meistens aber nichts.«
»Später hat sie mit mehreren Männern Umgang gehabt, zum Teil mit mehreren gleichzeitig. Weder bei der ersten Cohabitation noch bei den späteren ist Macht angewandt worden. Im Gegenteil hat das Mädchen zur Ausführung der Handlung beigetragen durch einladendes Wesen, sie hat sich sogar zum Teil unaufgefordert entblösst. Manchmal hat sie Geld erhalten. Zu Hause hat sie vorgegeben, das Geld durch Verkauf von Traktaten erhalten zu haben. – Aus [dem] ärztlichenGutachten geht hervor, dass bei ihr die üblichen Zeichen eines wiederholt stattgefundenen Coitus mit Männern gefunden wurden. Anderweitiger Körperschaden war ihr nicht zugefügt.«
Kasus Nr.46… hat manchmal von verschiedenen jungen Burschen, die ihr Annäherungen gemacht haben, erzählt. Sie hat keinen schlechten Ruf. Im Alter von 11 Jahren war sie Kindermädchen bei einem Arbeiter, der sich unzüchtig gegen sie benahm. Dies bestand in wiederholtem Coitus in vulvam. Es erscheint zweifellos, dass das Mädchen schon beim ersten Male willig war. Es machte den Eindruck, als ob sie mit sexuellen Dingen Bescheid wusste, und sie hatte Gelegenheit genug, von dem Manne wegzukommen. Er versprach ihr Geld. Später geschah die Handlung stets ohne Drängen des Mannes. Das Verhältnis dauerte ½ Jahr. Die Strafsache entstand, weil das Mädchen sich weigerte, ihre Stellung als Kindermädchen fortzusetzen und dies mit den obenerwähnten Verhältnissen begründete, worauf die Mutter den Mann anzeigte.«
Geht man historisch weiter zurück, so gilt immer mehr als allgemeine Regel, dass die Kinder sehr früh aus der Obhut der Familie entlassen wurden. Von sieben Jahren an fand man sie in fremden Familien, bei Verwandten, Nachbarn, oder einem Meister des Fachs anvertraut, in dem das Kind ausgebildet werden sollte. Oder auch einfach in Tätigkeiten eingesetzt wurde, welche keine Ausbildung verlangten. Ein Überbleibsel aus jener Zeit ist die französische Anrede für Kellner, nämlich garçon, was nichts anderes als Junge bedeutet. Der/die Auszubildende (Lehrling) wohnte oft beim Meister und ass an dessen Tisch.viii Auch die Dienstboten konnten sehr jung sein und sich im Familienalltag mit den eigenen Kindern mischen. Von daher ist es nicht verwunderlich, wenn man liest, dass Dienstboten und Kinder sich das Bett teilten, so wie diese das untereinander auch taten.
Die gemeinsame Benutzung eines Bettes durch mehrere Personen war umso normaler, je weiter man zurück geht. Das gilt für alle Stände, und soll bis im 16.Jh. sogar am französischen Hof der Fall gewesen sein.ix
Im Laufe des 16. Jahrhunderts setzte dann ein Kampf der Moralisten gegen das gemeinsame Schlafen ein. Er fand sich noch im 17. Jahrhundert (und wohl, auf ärmere Volksschichten abzielend, auch später noch).x Ebenso ergeht über eine lange Zeit der eindringliche Rat, die Kinder nicht den Dienstboten zu überlassen.xi
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Wie eingangs gesagt: Mein Exkurs in frühere Wohnverhältnisse und Aufwachsensbedingungen der Kinder kann nur spekulativ mit den viel höheren Anzeigequoten betreffend sexuellen Kindesmissbrauchs in den 50er/60er Jahren in Zusammenhang gebracht werden. Der anschliessende, noch weiter zurück reichende Einblick in eine Dimension der Sozialgeschichte mag anbei gezeigt haben, wie die moderne Kleinfamilie mit ihren dichten Grenzen einen Extremfall darstellt. Von da her scheint es auch logisch, dass als Missbraucher praktisch nur noch der Vater des Kindes, bzw. dessen Nachfolger (der Stiefvater) in Frage kommen.
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Siehe auch:
„Krankhafte Wirkungen… hat man überhaupt nicht nachweisen können.“
Mein Blogtext zur oben erwähnten Studie von A.Rasmussen, mit vielen Auszügen.
„Die Reaktion der Kinder auf sexuelle Beziehungen mit Erwachsenen“ *
Wissenschaftlicher Bericht von Bender & Blau über ihre oben erwähnte Studie, mit allen Falldarstellungen, integral auf deutsch übersetzt durch mich.
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MEHR ZUR SEXUELLEN SOZIALISATION:
Das sexuelle Aufwachsen eines Hippie-Mädchens.
Kinder als willige Opfer: Gibt es das? *
Ein Blick in die Welt der „Baby-Prostitution.“ *
Er 22, sie 9. Kindesheiraten in moderner Zeit – USA 1937.
Sexuelle Erziehung im frühen Hawaii.*
„Ist er nicht das hübsche Mädchen?“
Die sodomitischen und blutschänderischen Kinder des alten Zürich
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Quellen:
i Über die Untermietpreise in München. In: Münchener Statistik. Nummer 7, Juli 1952. S. 141. https://www.mstatistik-muenchen.de/archivierung_historische_berichte/MuenchenerStatistik/1952/ms520701.pdf
ii Schlafgänger. https://de.wikipedia.org/wiki/Schlafg%C3%A4nger
iii Schlafgänger. https://de.wikipedia.org/wiki/Schlafg%C3%A4nger
iv Von Heinrich Zille, 1902. (Aus der Grafischen Sammlung der Stiftung Stadtmuseum Berlin.)
v Anonymus: Josephine Mutzenbacher. Die Geschichte einer Wiener Dirne von ihr selber erzählt. Erste Auflage (Privatdruck) 1906. Wiederabdruck 2009, St.Gallen (Otus Verlag). S.39f.
vi Bender, L. & A.Blau (1939). The Reaction of Children to Sexual Relations with Adults. American Journal of Orthopsychiatry 7(4):500 – 518, deutsch hier in meinem Blog:
„Die Reaktion der Kinder auf sexuelle Beziehungen mit Erwachsenen“ *
vii Rasmussen, Ausgusta (1934). DIE BEDEUTUNG SEXUELLER ATTENTATE AUF KINDER UNTER 14 JAHREN FÜR DIE ENTWICKELUNG VON GEISTESKRANKHEITEN UND CHARAKTERANOMALIEN. In: Acta Psychiatrica Scandinavica, S. 351-434.
Textauszüge in meinem Blog unter:
„Krankhafte Wirkungen… hat man überhaupt nicht nachweisen können.“
viii Ariès, Philippe, Geschichte der Kindheit. München, 1978 usw. (dtv). S. 502-544.
ix Ariès, Philippe, a.a.O., S. 183.
x Ariès, Philippe, a.a.O., S. 194.
xi Ariès, Philippe, a.a.O., S. 196.
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