Vom liberalen Umgang zur Furcht vor dem Täter-Kind.
Zusammenfassung
Im späten zwanzigsten Jahrhundert entstand eine neue Sichtweise auf Kinder als potenzielle Sexualstraftäter. Heute befasst sich die Forschung mehr mit problematischem Sexualverhalten von Kindern als mit ihrer natürlichen Sexualität. Die Studie von E.-M.B.Leander i, die ich hier in Auszügen vorstelle, analysiert den Diskurs und die Bilder zum Thema kindliche Sexualität in einer dänischen Fachzeitschrift für Erzieherinnen und Erzieher im Zeitraum von 1970 bis 2019. Sie ergab einen radikalen Wandel in den Ansichten über die kindliche Sexualität: von einem extremen Liberalismus in den ersten Jahrzehnten bis hin zu einer Sichtweise, die die Sexualität von Kindern stark mit sexuellem Missbrauch in Verbindung bringt. Die Angst vor sexuellem Missbrauch durch Kinder beeinflusste die neue Sichtweise auf die kindliche Sexualität.
Einführung
Das heutige Wissen über das sexuelle Verhalten des Kindes zeigt, dass dieses art-typisch und pervasiv ist. Es ruht auf Beobachtungen von Eltern, Kinderbetreuungs-Personal und Forschern, und wurde retrospektiv erzählt in verschiedenen westlichen und nicht-westlichen Kulturen. [Es folgen breite Literatur-Angaben im Original-Text, auf die ich hier verzichte. Interessenten finden sie leicht im Internet; nähere Angaben am Ende dieses Textes.]. Mitte der achtziger Jahre nun wurde in den USA eine neue Kategorie von Kindheits-Sexualität eingeführt: das PSB [Problematic Sexual Behavior; Problematisches Sexualverhalten]. Die neue Idee von „Kindern, die andere Kinder sexuell missbrauchen“ definierte diese Kategorie. Es war darum auch die Geburt einer neuen Identität, derjenigen des Kindtäters des sexuellen Missbrauchs.
Seit Mitte der Achtziger wurde PSB bei Kindern zu einem internationalen Fokus. Heute richtet sich mehr Forschung an Kinder-PSB denn an ihre normale Sexualität.
In diesem Artikel studiert die Autorin, E.-M. B. Leander, das Auftauchen dieses speziellen Blicks auf das Kind anhand des dänischen Kontexts, wobei sie den internationalen Charakter zeigt. Sie zeigt, wie diese Ideen die dänischen Normen und Praktiken veränderten.
Es handelt sich um eine Folgestudie zu einer früheren Studie von Leander, welche ergab, dass früher Doktorspiele und Nacktheit der Kinder in der Dänischen Frühkinder-Erziehung und -Pflege (ECEC) durchaus akzeptiert waren. Um den Wandel genauer zu untersuchen, analysierte Leander Beiträge und Bilder im dänischen Erziehungs- und Pflegejournal B&U [Børn & Unge,“Kinder und Jugendliche”] über 50 Jahre, 1970–2019. Diese Fachzeitschrift wird von der Dänischen Union der Kleinkind- und Jugenderzieher herausgegeben.
In dieser Periode betraten die dänischen Frauen den Arbeitsmarkt und die dänischen Kinder Kinderbetreuungs-Einrichtungen. Dänemark hat eine der höchsten Quoten an institutionell betreuten Kindern. Als Kinder diese Institutionen betraten, hiess das auch, dass sie ihre ersten sexuellen Erfahrungen an neuen Orten machten. Im Gegensatz zu den früheren Doktorspielen, die an heimlichen Orten stattfanden, wurden sie jetzt für Professionelle sichtbar, was diese Institutionen zu Orten der Studie für kindliche Sexualität und deren normativen Veränderungen machte.
Leander berücksichtigte nur Artikel aus B&U, in denen es höchstens um Elfjährige geht. Sie teilt vorgängig ihr Material in drei Perioden ein.
Resultate
Erste Periode: 1970-1985: Ein Randthema.
In dieser Periode hatte kein einziger Artikel die kindliche Sexualität zum Hauptthema. Keine zehn Artikel erwähnten dieses Thema, und auch diese nur im Vorbeigehen. Es ging bei diesen vor allem um Besprechungen von Büchern zur Sexualerziehung, nachdem Sexualerziehung ab 1970 in dänischen Schulen zur Pflicht geworden war. Was diese Besprechungen gemeinsam hatten war, dass ihre Autoren die vorgestellten Bücher für prüde hielten und ihre prioritäre Ausrichtung auf das Reproduktionsthema kritisierten.
Bei der Durchsicht aller Ausgaben im Zeitraum von 1970 bis 1985 stellt sie fest, dass es in dieser Zeit nicht viele Fotos von nackten Kindern (weniger als 20) gab. Diese zeigten aber offen den nackten Körper des Kindes, einschließlich Gesäß und Genitalien. Die meisten dieser Fotos illustrierten die tägliche Routine in Kinderbetreuungseinrichtungen. Sie belegen, dass das Nacktbaden von Kindern vor der Jahrtausendwende in dänischen Kinderbetreuungseinrichtungen allgemein üblich war.
Sie belegen, dass vor der Jahrtausendwende das Nacktbaden von Kindern in dänischen Kinderbetreuungseinrichtungen allgemein üblich war, wie von
dänischen Kinderbetreuungsfachleuten berichtet wird.
Von 1970 bis 1985 gab es in B&U nur zwei Artikel über CSA [Child Sexual Abuse]. Dieses Zeichen der Absenz des CSA-Themas wird durch den Inhalt der Artikel bestätigt. Der erste war ein Bericht eines dänischen Kinderarztes vom Zweiten Internationalen Kongress über Kindesmisshandlung und Vernachlässigung in London im Jahr 1978. Es wird erklärt, dass man erst in letzter Zeit zunehmend auf CSA aufmerksam geworden sei, sowohl in Europa als auch in den USA, und dass die meisten Redner über CSA auf dem Kongress Amerikaner waren. So argumentierte ein amerikanischer Redner, dass mindestens eines von vier Kindern mindestens einen sexuellen Übergriff vor seinem achtzehnten Lebensjahr erlebt. Der Bericht des Kinderarztes stützt somit das Argument, dass die große Aufmerksamkeit auf CSA in den Vereinigten Staaten Ende der 1970er Jahre begann und in den 1980er Jahren nach Europa exportiert wurde. Dies wird auch durch den zweiten Artikel über CSA aus diesem Zeitraum betätigt, eine Rezension eines amerikanischen Kinderbuchs aus dem Jahr 1985, das Kinder ermutigt, sich einem Erwachsenen anzuvertrauen, wenn sie sexuellen Missbrauch oder andere Verletzungen der persönlichen Grenzen durch Erwachsene oder ältere Kinder erfahren. Mitte der 1980er Jahre war sexueller Missbrauch von Kindern ein Thema, das in Dänemark überhaupt nicht existierte, und die Zählung der B&U-Artikel, die die CSA zwischen 1970 und 2019 erwähnten, bestätigt, dass die B&U erst im Jahr 1988 begann, regelmäßiger über CSA zu schreiben (Abb. 2).
Zusammenfassend lässt sich für den Zeitraum von 1970 bis 1985 sagen, dass Fotos von nackten Kindern und das Thema Sexualität von Kindern nicht viel Platz in B&U einnahm. CSA in Dänemark war noch kein Schwerpunktthema. Die beiden Male, in denen ein Schwerpunkt „CSA“ in den Blick kam, kam dies aus englischsprachigen Ländern, hauptsächlich den Vereinigten Staaten… Eine Broschüre von BUPL [Dänische Gewerkschaft der Erzieherinnen und Erzieher] stützt diese Erkenntnisse. Darin heißt es, dass in den 1970er Jahren dänisches Kinderbetreuungspersonal zur Sommerszeit „oben ohne“ herumging, und einige Kinderbetreuungs-Einrichtungen spezielle Räume für die sexuellen Spiele der Kinder hatten, die sie Sex-Zimmer nannten.
Zweite Periode, 1986-1998: Glückliche, nackte Kinder und liberale Attitüden
Im Jahre 1986 geschah es zum ersten Mal, dass die kindliche Sexualität das Hauptthema eines B&U-Beitrags darstellte. Es ging um einen Vorfall in einer BASC [Vorschule und KiTa], wo eine Gruppe von 8-9jährigen Kindern bei gedimmtem Licht Striptease gemacht und masturbiert hatte, bevor sie schliesslich in die Topfpflanzen der Einrichtung uriniert hatten.

Die Gemeinde entließ den Direktor nach Beschwerden der Eltern. Der Fall wurde in drei Ausgaben von B&U erwähnt, das letzte Mal in Form eines dreiteiligen Artikels, der die Titelgeschichte bildete. Darin ging es um die Frage, wo die Grenzen für das Sexualverhalten von Kindern in Kinderbetreuungseinrichtungen gesetzt werden sollen. Das Titelbild zeigte ein Foto von zwei nackten Kindern, die lachen und sich berühren, und von denen eines seine Genitalien zeigt. Im Inneren der Zeitschrift erschien ein Foto von zwei Kindern, die sich auf den Mund küssen, unter der Überschrift, „Wie frech kann eine BASC sein?“ (Fig. 4). Drei Lehrer aus einer anderen BASC berichteten, dass in ihrer Einrichtung Kinder im Alter von 9-12 Jahren Strip-Poker hinter verschlossenen Türen gespielt haben. Das Personal hatte dafür gesorgt, dass alle beteiligten Kinder mit dem Spiel vertraut und damit einverstanden waren, aber ansonsten ließen sie die Kinder in Ruhe. Die Eltern waren amüsiert. Ein BASC-Lehrer erklärte: „Die Erkundung der Sexualität durch Kinder findet überall statt“.
Eine große Toleranz gegenüber sexuellen Spielen von Kindern in Kinderbetreuungs-einrichtungen kennzeichnete die Interviews des Features von 1986. Ein Kinderpsychologe und ein Lehrer forderten die Akzeptanz der sexuellen Neugier der Kinder. Der Lehrer schloss daraus, dass es die Aufgabe seines Berufs sei, dies zu verteidigen. Ein Grundschuldirektor fand, dass es Kindern erlaubt sein sollte, sich gegenseitig zu berühren. Wenn Kinder im Alter von 10-12 Jahren gemeinsam masturbierten, sollten ihnen die Lehrer grundlegende Verhaltensregeln beibringen, aber eine entspannte Einstellung zum Sex vermitteln. Nur eine Schulärztin vertrat die Ansicht, dass Kinder in Bezug auf ihre Sexualität ihre Mitmenschen respektieren sollten. Auch die anderen Befragten erörterten die Gefahr, dass die Sexualität der Kinder die Eltern provoziert, und sahen eine Herausforderung darin, Grenzen zu setzen. Sie bezeichneten die Sexualität von Kindern ein „brisantes“ Thema.
Zwischen 1986 und 1998 veröffentlichte B&U drei weitere Berichte über die Sexualität von Kindern, die viele Ähnlichkeiten mit dem Beitrag von 1986 hatten. Die Frage, wo die Grenzen für die sexuellen Spiele der Kinder in einer Kinderbetreuungseinrichtung zu setzen seien, war die Frage während dieser Zeit. Der Beitrag von 1988 war ein Interview mit einer Kindergärtnerin und einem BASC Lehrer, die ein kommunales Seminar über die Sexualität von Kindern organisiert hatten, um diese Frage zu erörtern. Der Titel des Beitrag lautete: „Sollen die Kinder ihre Hosen ausziehen dürfen, wenn sie allein im Kissenraum spielen? „
Der Hauptgrund für Kinderbetreuer, sich mit den Grenzen der sexuellen Spiele von Kindern zu befassen, war die Reaktion der Eltern, die in den vier Features allgemein als unsicher oder unwissend in Bezug auf die Sexualität ihrer Kinder und als ihre sexuellen Spielen missbilligend portraitiert wurden. Das Feature beschrieb Konflikte zwischen Kinderpflege-Professionellen, die sich nicht in das Verhalten der Kinder einmischten, und zornigen Eltern. Das Bild war jedoch nicht nur schwarz und weiss. Es wurde auch von entspannten Eltern berichtet, und eine Kindergarten-Direktorin sagte aus, dass sowohl die Haltung der Eltern als auch die der Lehrer gegenüber der Sexualität der Kinder in den 26 Jahren ihrer Berufsausübung liberaler geworden sei.

Auch die Kinderpflege-Professionellen, die in den vier Features zwischen 1986 und 1998 interviewt worden waren, drückten alle eine sehr liberale Sicht von der kindlichen Sexualität aus und verstanden sexuelle Spiele als natürlichen Bestandteil der kindlichen Entwicklung. Die Geschichten aus den Kinderpflegeeinrichtungen zeigten auch an, dass diese eine sehr akzeptierende Haltung gegenüber der kindlichen Masturbation und den sexuellen Spielen einnahmen. Eine Direktorin erklärte, dass in ihrem Kindergarten „immer alle 100% solidarisch mit den Kindern seien“:
„Wie andere Kindergärten haben wir einen Raum mit weichen Kissen, wo die Kinder für sich sein dürfen. Wenn die kleine Lise im Kissenraum liegt und sich amüsiert, kommen wir irgendwann vorbei und erinnern sie daran, dass in einer halben Stunde ihre Mama kommt und sie sich besser wieder ihre Hose anzieht. Nicht alle Eltern mögen die Idee, dass ihre Kinder sexuelle Wesen sind.“
Es gab jedoch auch Beispiele dafür, dass die häufige Masturbation von Kindern das Betreuungspersonal verwirrte, und es sich fragte, wie viel akzeptabel sei. Einem B&U-Journalisten zu Folge existierten Tabus auch unter den Fachkräften in der Kinderbetreuung. Ein wiederkehrendes Thema in jener Zeit war, dass die Fachkräfte ihre eigenen Grenzen respektieren sollten. Einige fühlten sich trotz ihres Wissens über die kindliche Sexualität unwohl, wenn sie damit konfrontiert waren, aber sie hatten Angst, „nein“ zu sagen. Die Lehrerin des ECEC-Programms betonte das Bedürfnis der Kinder nach einer natürlichen Entwicklung, riet aber den Fachkräften, nicht liberaler zu sein als sie waren. Ihrer Meinung nach war das, was einige Fachkräfte daran hinderte, das Sexualverhalten der Kinder zu regulieren, die Angst, die Sexualität der Kinder zu unterdrücken oder ihnen die Freude zu verderben. Die Vorstellung, dass die Einschränkung der natürlichen Sexualität von Kindern negative Folgen für sie haben könnte, taucht in den vier Beiträgen immer wieder auf. Leander verweist hier auf den norwegischen Psychologen Langfeldt, der die Bedeutung der Selbstbefriedigung in der Kindheit für ein erfülltes Sexualleben als Erwachsener betonte und riet, mit Kindern über ihre Technik zu sprechen. Sie zitiert auch den Autor einer Studie über 70 Jahre amerikanische Lehrbücher zur frühkindlichen Erziehung, welcher ähnliche Ideen schon in einem Lehrbuch von 1920 feststellt. Leander sieht darin einen früheren Einfluss der Psychoanalyse.
Der Skandal-Fall und die Folgen
1998 nun erscheint ein Artikel, der einen Wechsel im Kurs der B&U anzudeuten scheint, jedenfalls was die veröffentlichten Fotografien und Zeichnungen betrifft. Der Artikel stellt das tägliche Dilemma der Kinderpfleger als Wahl zwischen persönlichen Grenzen und physischer Intimität bei der Arbeit mit Kleinkindern dar. Als typische Fälle wurde der eines kleinen Jungen besprochen, der einen Childcare worker um Hilfe bat, weil er die Vorhaut zu weit nach hinten gezogen hatte und sie jetzt nicht mehr nach vorne brachte, sowie Kinder, die die Brüste der Lehrerin zu betatschen versuchten. Im Kontrast zur vorherigen Periode galt die Sorge der Professionellen jetzt nicht mehr der Reaktion der Eltern gegenüber dem Verhalten ihrer Kinder. Vielmehr fürchteten sie, die Eltern könnten sie des unangemessenen Umgangs mit den Kindern verdächtigen. Diese Tendenz mag verstärkt worden sein durch aktuelle Fälle von CSA (Child Sexual Abuse – Kindesmissbrauch) in dänischen Kleinkindererziehungs-Einrichtungen, insbesondere dem Vadstrupgaard Fall, wo ein Lehrer zu dreieinhalb Jahren verurteilt worden war, weil er 20 Kinder in einem Kindergarten missbraucht hatte. Der Fall spielte für die weitere Entwicklung eine Schlüsselrolle. Er zeigte der Oeffentlichkeit, die seit etwa 1980 dem Thema CSA aufmerksam gegenüber stand, dass solche Fälle auch in professionellen care settings geschehen konnten, womit diese sozusagen ihre Unschuld verloren hatten. Nach 1998 stieg die Zahl der Anklagen gegen Mitglieder des child care staff wegen CSA beträchtlich.

Wie Studien zeigen, sprossen nach diesem Datum die Richtlinien für die Mitarbeiter zur Verhinderung falscher Anklagen wegen CSA hervor. Zum Beispiel wurde darin zur Einschränkung der körperlichen Kontakte mit Kindern geraten. Studien von Leander zeigten, wie die toleranten Praktiken um die Nacktheit von Kindern und um Doktorspiele sich veränderten. Parallel dazu verschwanden entsprechende Bilder aus B&U und wurden durch Zeichnungen ersetzt. Dies zeigt auch einen Wandel im Blick auf den kindlichen Körper.
Der Wandel wurde begleitet von einem Wandel im Diskurs. Eine Furcht vor Fehlkonstruktionen erwachsener Aktionen gegenüber Kindern tauchte auf, die vorher nicht gegeben war. In einem Feature von 1986 verteidigte ein Grundschulleiter die Masturbation von Kindern in Kinderbetreuungseinrichtungen mit der Begründung, dass auch die Erzieherinnen masturbierten, und zwei Erzieherinnen beschrieben, wie Kinder sich einen Spaß daraus machten, die Badehose ihrer Erzieherinnen herunterzuziehen [Parallele zum Fall Daniel Cohn-Bendit ! mb.] In einem1990er Artikel erwähnte eine Lehrerin, dass ihre kleine Tochter ihr Nachthemd hochgezogen und ihre Vulva gestreichelt habe, und ihre Mutter gebeten hatte, dasselbe zu tun, weil es sich „so schön“ anfühle.

Diese Aussagen waren unbeschwert in der Art und Weise, wie sie den Körper und/oder die Sexualität des Kindes mit dem Körper und/oder der Sexualität des Erwachsenen in Zusammenhang brachten. In den B&U von 1970 bis 1998 zeigte kein Redner oder Journalist Angst, missverstanden zu werden, wenn er sich unverblümt über die Sexualität von Kindern äußerte. Der unbekümmerte Diskurs und die Auswahl der Fotos von 1970-1998 deuteten darauf hin, dass der Körper des Kindes noch nicht im erwachsenen Verständnis des Wortes sexualisiert oder mit CSA in Verbindung gebracht wurde. „Ich behaupte, dass der Schock über den Fall Vadstrupgaard eine entscheidende Rolle dabei spielte, dem sorglosen Diskurs von B&U ein Ende zu setzen. Diese Veränderungen zeigen… einen Verlust an Unschuld hinsichtlich der Sicht auf den nackten kindlichen Körper… Das Kind wird allmählich als das mögliche Opfer von CSA gesehen. „The pedophile’s gaze“, der Blick durch die Linse des CSA, schlug langsam Wurzeln im Feld der Kinderpflege.“
Die Zählung der Autorin von B&U Artikeln, die CSA erwähnen, enthüllt eine signifikante Zunahme nach dem Vadstrupgaard Fall (siehe Fig. 2 oben).
Dritte Periode, 1999-2019: „Kinder, die Kinder sexuell missbrauchen“
Bereits 1999 publizierte B&J eine dreiteilige Artikelserie über kindliche Sexualität. Ein Blick genügt, um festzustellen, dass wir eine neue Periode betreten haben. Vorbei waren die glücklichen, nackten Kinder. Das Titelbild zeigte ein unscharfes Foto der Köpfe und Armen von zwei kämpfenden Kindern (Fig. 8). Ein Kopf war doppelt so groß wie der des anderen, und das kleinere Kind war in großer Not und weinte mit geschlossenen Augen. Der Kopf des kindlichen Angreifers war so groß und verschwommen, dass er dämonisch aussah. Die Schlagzeile erklärte ausdrücklich, was vor sich ging: „Kinder missbrauchen Kinder.“ Der Aufmacher fügte hinzu, dass dies ein weit verbreitetes Phänomen sei, obwohl es in Dänemark geleugnet werde.
Das Feature von 1999 führte eine neue Sichtweise auf die Sexualität von Kindern ein, die in B&U im Zeitraum 1999-2019 vorherrschend war. Sie schloss die Vorstellung nicht aus, dass die Sexualität von Kindern natürlich ist und unschuldig sein kann. Sie beinhaltete jedoch die neue Vorstellung, dass Kinder PSB haben und sich gegenseitig sexuell missbrauchen können. dass sie andere Kinder bedrohen, dominieren oder zu sexuellen Kontakten zwingen können.
Im ersten Artikel wurde ein Fall geschildert, bei dem es um einen Jungen ging, der von Kindern in seinem Kindergarten „sexuell missbraucht“ wurde. Seine Mutter erklärte, dass der Junge ihr anfangs erzählte, dass zwei andere Jungen im Alter von 5-6 Jahren ihre Finger zwischen seine Pobacken gesteckt hätten. Da dachte sie, dass dies „nur ein Spiel im Kissenraum“ war. Erst als ihr Sohn und andere Kinder wiederholt ähnliche Vorfälle erlebten, und eine angespannte Situation entstand, in der sich besorgte Eltern bei der Kindergartenleiterin beschwerten, begriff die Mutter die Ereignisse als sexuellen Missbrauch: „Ich wusste nicht, dass Kinder so etwas miteinander machen, und andere Leute wahrscheinlich auch nicht. Und zumindest sollten sich die Fachkräfte in der Kinderbetreuung bewusst sein, dass das Problem existiert“. In dem Beitrag von 1999 wurde auch ein Interview mit einem britischen Sozialarbeiter abgedruckt, der in Dänemark arbeitete. Er äußerte Bestürzung darüber, dass die Dänen immer noch leugnen, dass auch Kinder Kinder sexuell missbrauchen können.
Die Vorstellung, dass Kinder, die „Kinder sexuell missbrauchen“, selbst Opfer sexuellen Missbrauchs sind, stand auch im Mittelpunkt des Features von 1999, worin zwei Psychologen… immer wieder betonten, dass sexuell missbrauchende Kinder oft selbst sexuell missbraucht wurden.
Somit enthielt dieser erste B&U-Beitrag über „sexuell missbrauchende Kinder“ zwei wichtige Stereotypen, die seit dem Aufkommen des Interesses an Kindern mit Kindern mit so genannter PSB Mitte der 1980er Jahre in den USA vorgebracht wurden, die sich aber für die meisten dieser Kinder als unzutreffend erwiesen haben… nämlich, dass sie Opfer sexuellen Missbrauchs sind, und zukünftige Sexualstraftäter.
Das Stereotyp, dass sexuell missbrauchende Kinder selber sexuell missbraucht worden sind, fusste weitgehend auf den frühesten Studien mit extrem kleinen Stichproben. [S.59]
[…]
Mit der zunehmenden Besorgnis über den sexuellen Missbrauch von Kindern in den 1980er Jahren wurde nicht nur problematisches sexuelles Verhalten [PSB] von Kindern, sondern überhaupt jedes sexuelle Verhalten eines Kindes als ein sicheres Zeichen für sexuellen Missbrauch gedeutet. In dem B&U-Beitrag von 1999 wurde dieser Gedanke ebenfalls erwähnt, als einer der beiden Psychologen erklärte: „Sexualisiertes Verhalten ist in diesem Alter nicht normal, also muss es irgendwo her kommen.“ [S.59] [Bemerkung von montebas: und sexuelles Verhalten von Kindern ist natürlich immer sexualisiertes Verhalten…]
Normale vs. abnormale Kindheits-Sexualität
2009 erschien nun in P&U ein Interview mit einer zentralen Persönlichkeit im dänischen Diskurs über Kleinkinderbetreuung und Sexualerziehung, welche feststellte, dass das dänische Child Care Personal, welches noch 1999 nicht akzeptieren wollte, dass es Kinder mit PSB gibt, sich sechs Jahre später in zwei Lager teilte. Das eine hielt noch immer das liberale Ideal von 1980 hoch, aus Sorge, Eingreifen könnte traumatisieren, während das andere Lager, beeinflusst vom Pädophilen-Schreck, an einer Furcht vor „cushion rooms“ („Kissen-Zimmer“) litt und dachte, dass Kinder, die sexuelle Spiele spielten, missbraucht worden sein müssten. Letztere Sicht hatte an Boden gewonnen.
Es wurde nun gefordert, dass die Fachkräfte der Kinderbetreuung sich Wissen darüber aneigneten, „was eine normale sexuelle Entwicklung ist und was nicht.“ Dabei wurde unterstellt, dass es inzwischen „objektives“, schematisiertes Wissen über abnormales Verhalten gebe, Solches wurde im Auftrag einer dänischen Kinderschutzorganisation von einem Experten veröffentlicht. Die Unterscheidung zwischen normalem und abnormalem Verhalten war dabei zentral für dieses Wissen, es organisierte dieses. Normale Sexualität in der Kindheit war „natürlich“ und „unschuldig“, während abormale Sexualität exzessiv, überschreitend oder abusiv war.
Die von Experten vorgestellte Schematik offenbarte nun auch eine Grenzverschiebung. Einige Verhaltensweisen, die vor 1999 durchaus als natürlich gegolten hatten, waren jetzt nicht mehr unbedingt normal. Während in den 1970er Jahren B&U-Bewertungen von Sexualkundebüchern für Kinder ein realistisches Wissen über alle Aspekte der Sexualität befürworteten, wurde nun „zu viel Wissen über Sex“ als abnormal für Kindergartenkinder eingestuft, und „ein Wissen über Sex, das nicht altersgemäß ist, zum Beispiel detaillierte Kenntnisse über Geschlechtsverkehrstechniken usw.“ als abnormal für Kinder im Alter von 6-10 Jahren. Ein weiteres Beispiel war die Selbstbefriedigung, die nun unter Umständen problematisch wurde.
Kindheitssexualität eher mit Risiko verbunden als mit Lust
In einem B&U-Artikel von 2009 heißt es, dass eine von der Stadt Aarhus eingerichtete Hotline für Eltern, die Verdacht auf CSA in der Betreuungseinrichtung ihrer Kinder hegten, vor allem vom Betreuungspersonal genutzt wurde. Viele der Anrufe betrafen… den Missbrauch von Kindern durch Kinder. Eine Umfrage durchgeführt von B&U im Jahr 2011, zeigte, dass transgressive Doktorspiele zu den zehn Spielen gehörten, die Kinderbetreuerinnen und -betreuer am meisten fürchteten, weil sie den Kindern in ihrer Obhut Schaden zufügen könnten. Eine andere Umfrage zeigte jedoch, dass auch die Eltern wegen der sexuellen Spiele der Kinder besorgt waren. In etwa einem Drittel der Kindergärten waren die Eltern restriktiver als das Personal, wenn es um sexuelle Spiele ging, was zu Unstimmigkeiten führte.
Die Panik: Regeln gegen Doktorspiele für Kinder und Nacktheit
Die Ansicht, dass Doktorspiele für Kinder potenziell schädlich sind, stand sowohl beim Personal als auch bei den Eltern in dänischen Kinderbetreuungseinrichtungen etwas mehr als zehn Jahre nach Beginn des neuen Jahrtausends fest. Dies wurde 2012 durch eine Studie bestätigt. Sie ergab auch, dass inzwischen die Mehrheit der dänischen Kinderbetreuungseinrichtungen Regeln aufgestellt hatten, die die Nacktheit der Kinder und Doktorspiele einschränkte. Die Kinder badeten nun in Badekleidung, und Doktorspiele waren entweder verboten oder eingeschränkt. Meistens spielten die Kinder bekleidet. Ihnen wurde beigebracht, ihre Grenzen zu schützen und die Grenzen anderer Kinder zu respektieren, um sexuellen Missbrauch sowohl von Kindern als auch von Erwachsenen zu verhindern. Die Studie zeigte einen neuen Diskurs, der Doktorspiele als potenziell „missbräuchlich“ betrachtete, wobei einige Kinder als „sexuelle Missbrauchstäter“ eingestuft wurden.
Das Betreuungspersonal fürchtete die Reaktionen der Eltern, aber es teilte nun auch die neuen Sorgen der Eltern über das Risiko von Grenzüberschreitungen. Diese Ansicht war 1999 den Betreuern noch fremd, dann im Jahr 2005 als spaltend und inzwischen, 2012, als die vorherrschende Meinung unter den dänischen Fachkräften der Kinderbetreuung beschrieben. Nur eine Minderheit kritisierte diese Entwicklung und befürchtete, Kinder könnten Nacktheit und Sexualität als gefährlich wahrnehmen
‚Framing‘ der kindlichen Sexualität in Begriffen des Missbrauchs.
2014 erschien ein Überblick über die normale Kindheits-Sexualität und Erkennungszeichen dafür, wann die Doktorspiele „o.k.“ sind: die Kinder mussten gleiches Alter haben, gleichen Status, Intellekt, Initiative. Die Spiele mussten für alle ein Vergnügen sein.
Die Kindergarten-Stab erklärte jedoch, dass die Konflikte oft von einem Graben zwischen Intentionen und Erfahrungen der Kindereinerseits und den Interpretationen der Eltern andererseits her kämen. Zwei Fälle illustrierten das:
Fall 1. Eines Sommers zogen sich einige 3-jährige Kinder hinter einem Spielplatzbusch aus und kitzelten sich gegenseitig mit Tannennadeln an den Pobacken. Einige hatten immer noch Tannennadeln zwischen ihren Pobacken, als sie nach Hause kamen. Obwohl das Personal überzeugt war, dass alle Kinder dieses Spiel lustig fanden, diskutierten die Eltern prompt darüber, wer wen sexuell missbraucht hatte.
Fall 2: In einem Kindergarten… steckten sich einige Kinder kleine Spielzeugteile in ihr Rektum. Später erklärten sie dem Personal, dass sie sehen wollten, ob die Teile dort hineinpassen, und versicherten dem Personal dass sie die Teile wieder in die Schachtel zurückgelegt hätten. Das Personal fand die Kinder nicht betroffen, aber die Eltern waren verärgert.
Ein Raum für die Sexualität von Kindern in der dänischen Frühkindererziehung
2017 wurde von interviewten Experten überwiegend ein Mangel an Wissen über kindliche Sexualität festgestellt. Deswegen seien die Betreuer oft zögernd, und wüssten in konkreten Fällen nicht, was als normal einzustufen sei, und wann sie eingreifen müssten. Eine Umfrage unter dem Betreuungspersonal ergab jedoch ganz überwiegend eine Schuldzuweisung an die Eltern, denen das nötige Wissen abgesprochen wurde. In der Kooperation mit den Eltern läge die grösste Herausforderung hinsichtlich kindlicher Sexualität. Es wurde auch festgestellt, dass deren Attitüden gewechselt hätten.
Der Bericht nahm sich auch des „Kissenraums“ an, unter dem Titel „Goodbye, gefährlicher Kissenraum!“ Die meisten Interviewten äusserten sich besorgt über die Entwicklung, die zu geschlossenen Kissenräumen, Verbot von Doktorspielen und dem Fehlen des Themas „natürliche kindliche Sexualität“ im Diskurs der dänischen Kleinkind-Erziehungseinrichtungen führte.
Diskussion
Die Autorin sieht in einer ersten Periode (1970-98) in der B&U Abdeckung des Themas einen ausgesprochenen Liberalismus. Um 1999 herum kam es zu einem Paradigmenwechsel, als die Konzepte des Missbraucher-Kindes und der Unterscheidung von normal und missbräuchlich beherrschend wurden. Von da an galt in der B&U auch das Narrativ, dass Kinder, die problematisches Sexualverhalten zeigten, selber missbraucht worden waren, und ihrerseits zu erwachsenen Kindesmissbrauchern würden.
Die Autorin verweist auf Parallelen zu einer amerikanischen Studie über Textbücher für Frühkinder-Erziehung, welche den Wechsel Ende der 90er vollzogen, worauf das kindliche Sexualverhalten nicht mehr als natürlich, sondern als möglicher Indikator und Vorläufer von sexuellen Gefahren galt. [67]
Die Autorin hält dann fest:
Es wurde in B&U nie erwähnt, dass ein Kind mit PSB (Problematisches Sexual Verhalten) mit größerer Wahrscheinlichkeit nicht sexuell missbraucht wird als dass es sexuell missbraucht wird (Chaffin et al., 2006; Elkovitch et al., 2009; Friedrich, 2007; Silovsky & Niec, 2002).
Schiefes Wissen
Nicht ein Artikel in der dritten Periode diskutierte die natürliche Sexualität des Kindes. Statt dessen waren sexueller Kindesmissbrauch und problematisches sexuelles Verhalten die Hauptthemen in allen Artikeln. Dies trotz der Tatsache, dass Kinder mit probl. Sexverhalten Charakteristiken aufweisen, die sie vom durchschnittlichen Kind unterscheiden, und sie eine kleine Minderheit darstellen. Die meisten Verhaltensweisen dieser Kinder treten sehr selten auf (<3%). Auch verüben gemäss statistischen Analysen nur sehr wenige Kinder sexuelle Verbrechen.
Für dieselbe Periode kommt ein Forscher hinsichtlich amerikanischer Textbücher zum Schluss: „Normales kindliches sexuelles Verhalten wird kaum diskutiert Wenn Sex diskutiert wird, ist er eine Gefahr.“ [69] Ein Erforscher kindlicher Sexualität (Friedrich) stellt fest: „Viel zu viele sexuelle Verhaltensweisen von Kindern werden pathologisiert… [69]
Die (Miss-)Interpretation der Sexualität der Kindheit
Friedrich, einer der ersten, der Kinder mit PSB beschrieb, und einer der wichtigsten Forscher, betonte, dass der Kontext entscheidend für das Verständnis des Sexualverhaltens von Kindern ist, und berichtet von Fällen, die „auf den ersten Blick ziemlich abweichend erschienen“, die aber, wenn die Erklärungen der Kinder und der Betreuer gehört wurden, „harmlos“ waren. Er kam zu dem Schluss, dass „zusätzliche Informationen das Sexualverhalten klären“. Die konkreten Fälle, auf die sich Friedrich in diesem Text bezieht, betrafen das Einführen von Gegenständen in die Vagina. In der Literatur über PSB bei Kindern wird das als „niederfrequente Aktivität“ [und folglich abweichend? mb.], „problematisch“, “aggressiv“, “nicht-normativ“ und “Nachahmung von erwachsenem Sexualverhalten“ bezeichnet [70].
Zur Zunahme der Überweisungen von Kindern mit problematischem Sexualverhalten an psychiatrische Stellen in den USA sagt Leander:
„Es ist nicht bekannt, ob dies eine [wirkliche] Zunahme solcher Verhaltensweisen darstellt, oder bloss veränderte Definitionen von problematischem Sexualverhalten, ein erhöhtes Bewusstsein und Berichterstattung über das, was schon immer existiert hat, oder eine Kombination dieser Faktoren“. Nur wenige fragen jedoch, ob diese internationale Entwicklung auch ein Ergebnis der Problematisierung harmlosen, arttypischen Verhaltens sein kann. Diese Frage ist entscheidend, denn je nach kulturellem Umfeld riskieren Kinder, die als PSB eingestuft werden, sehr ernste Konsequenzen, wie die Stigmatisierung als Sexualstraftäter, ständige Überwachung, Anzeige bei den Behörden, Ermittlungen, Untersuchungen, den Verdacht, sexuell missbraucht worden zu sein, Heimunterbringung, Pflegefamilie und Adoption… die Registrierung als Sexualstraftäter und die Benachrichtigung der Gemeinde.[70]
Eine Kultur von Angst und Missbrauch
Um eine breitere Perspektive auf die Problematik zu erhalten, möchte die Autorin die Entstehung der Kategorie „Kind als Täter sexuellen Missbrauchs“ als Teil einer größeren Entwicklung in den westlichen Gesellschaften seit den 1980er Jahren sehen. Sie beruft sich auf Autoren, die beschreiben, wie in den Vereinigten Staaten und im Vereinigten Königreich die Kindheit immer mehr als gefährlich und die Kindheit um Sicherheit herum rekonstruiert wurde. Erlebnisse, wie auf Bäume zu klettern oder mit dem Fahrrad zur Schule zu fahren, werden nun als riskant angesehen. Die Besessenheit von der Risikovermeidung hat dazu geführt, dass Kinder stark beaufsichtigt werden und das freie Spiel eingeschränkt wird. Weitere Autoren beschreiben auch, wie die Definition von Mobbing bei Kindern erweitert wurde, so dass nun auch Ereignisse darin eingeschlossen sind, die bloss unangenehm sind. Im Vereinigten Königreich und in den USA haben einige Schulen die Pausenzeiten reduziert oder abgeschafft. Hauptgründe sind unter anderem die Verhinderung von Verhaltensproblemen wie Mobbing.
Mehrere Autoren argumentieren, dass eine sicherheitsdominierte Kindheit Kinder daran hindert, zu erforschen und die Erfahrung, Fähigkeiten und Risikobewertung zu erlangen, die sie brauchen, um unabhängige, gesunde Erwachsene zu werden; ja dass die Überbehütung von Kindern diese noch anfälliger macht.
Es gibt nun seit den 1980er Jahren eine starke Parallele zwischen dieser Entwicklung der allgemeinen Einschränkung des kindlichen Spiels einerseits und der Problematisierung und Einschränkung der sexuellen Spiele von Kindern andererseits. Auch da besteht die Gefahr, dass Kindern wichtige Erfahrungen vorenthalten werden. Die arttypischen sexuellen Spiele von Kindern können als sexuelle Probespiele ein sicherer Ort sein, an dem Kinder über Sex lernen können. Kindern diese Spiele zu verbieten, verwehrt ihnen die wertvolle Gelegenheit, sexuelles Verhalten und sexuelle Interaktionen zu üben; Intimität, Grenzen und den Nervenkitzel der Sexualität zu erfahren, und schließlich, Wissen über genitale Unterschiede und den menschlichen Körper im Allgemeinen zu erwerben, bevor sie sich der komplexeren Sexualität der Erwachsenen gegenüber sehen.
Disziplinierung der kindlichen Sexualität
Nach Leander ergab ihre Analyse, dass die Unterscheidung zwischen normaler und abnormaler kindlicher Sexualität zum Dreh- und Angelpunkt des „neuen Wissens“ über kindliche Sexualität wurde. Dieses Wissen war hoch normativ, und es wurde zunehmend zur Grundlage zweier Methoden, die die Autorin als „disziplierend“ bezeichnet: die Methoden der Überwachung und der Restriktionen, angewandt auf die kindliche Sexualität in Kinderbetreuungseinrichtungen.
Das neue Wissen bevorzugte kein oder nur mäßiges sexuelles Verhalten in den Einrichtungen, während es sexuelles Verhalten ausgrenzte, das als missbräuchlich, ungewöhnlich, zu häufig oder zu fortgeschritten eingestuft wurde. Das Zusammentreffen von Wissen und Disziplinierung war doppelt wirksam, da es nicht nur die kindliche Sexualität disziplinierte, sondern auch die Professionellen um sie herum. Diesen wurde gesagt, dass ihre Wachsamkeit, ihre Kontrolle der kindlichen Sexualität und ihr Wissenserwerb den Schlüssel zur Prävention von sexuellem Kindesmissbrauch darstellen würde.
Historisch gesehen lag das erste Anwendungsgebiet der „Disziplierung durch Wissen“ auf dem Gebiet der Bekämpfung von Epidemien (im 18.Jh.). Leander argumentiert dann, dass der sexuelle Kindesmissbrauch in den heutigen Gesellschaften des Westens als eine der grossen Plagen gesehen und wie eine grosse Epidemie bekämpft wird, Sie zitiert Autoren, die der Ansicht sind, dass die verbreitete Fokussierung auf CSA, die in den späten 70er Jahren beginnt, und der darauf folgende Fokus auf das Kind als Sexualtäter verdeckte moralische Kreuzzüge gegen die sexuelle Revolution der 60er und 70er Jahre waren (Jenkins, 2003; Okami, 1992).
Leander kommt dann auf Dänemark zu sprechen, wo extreme Zirkel der sexuellen Revolution mit der Idee flirteten, dass sexuelle Beziehungen zwischen Erwachsenen und -kindern liberalisiert werden sollten. Dänemark sollte ja dann 1969 als erstes Land Pornografie völlig legalisieren, so dass Kinderpornografie ab 1969 (bis 1980) legal und leicht zu erwerben war.
In derselben Periode haben die dänischen Kindergärten ihre eigenständige Identität als Kinderbetreuungs-Einrichtungen verloren [das heisst, sie sind der Schule angenähert und derselben übergeordneten Struktur der Erziehung einverleibt worden; mb.], und sind nun Teil eines pädagogischen Kontinuums [welches von Keinkinderbetreuung bis zum rein schulischen Lernen reicht]. Freies Spiel, Fantasie und Fürsorge sind dabei in erheblichem Maße dem systematischen Lernen und der Entwicklung von Fähigkeiten gewichen.
Die gleiche Entwicklung hat im Vereinigten Königreich und den Vereinigten Staaten stattgefunden, wo das strukturierte Lernen die Zeit für das freie Spiel in Kindergärten reduziert hat. In ähnlicher Weise hat in den USA die Zeit, die ältere Kinder in der Schule und mit Hausaufgaben verbringen, erheblich zugenommen, während die Zeit zum Spielen abgenommen hat. Auch die sexuellen Spiele von Kindern gehören zum spielen.
In Anlehnung an Foucaults Theorie der Disziplinierung argumentiert Leander schliesslich, dass der Wandel der Ansichten über sexuelle Spiele von Kindern – problematisieren, pathologisieren und kriminalisieren, und sie dadurch erheblich einschränken – und die allgemeine Disziplinierung von Körpern in Kinderbetreuungseinrichtungen als Teil dieser allgemeinen pädagogischen Entwicklung betrachtet werden kann, die der heutigen Priorität des systematischen kindlichen Lernens dient. Dies tut sie, indem sie die „störenden“ und „nutzlosen“ Aspekte des Körpers ausgrenzt, ihn gefügig und nutzbringend macht und damit den aktuellen politischen und wirtschaftlichen Zielen in den westlichen Gesellschaften dient.
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Quellen:
i Leander, Else Marie Buch: Children’s Sexuality and Nudity in Discourse and Images in a Danish Education and Care Journal over 50 Years (1970–2019): The Emergence of “The Child Perpetrator of Sexual Abuse” in an International Perspective. In: Archives of Sexual Behavior (2023) 52:49–78. https://doi.org/10.1007/s10508-022-02421-5
Download des ganzen Artikels inkl. Fotos: https://www.researchgate.net/publication/364319106_Children’s_Sexuality_and_Nudity_in_Discourse_and_Images_in_a_Danish_Education_and_Care_Journal_over_50_Years_1970-2019_The_Emergence_of_The_Child_Perpetrator_of_Sexual_Abuse_in_an_International_Perspe/link/634ec9788d4484154a155dc0/download
Zwei von Leander zitierte Werke:
Dicataldo, Frank. C. (2009). The perversion of youth. Controversies in the Assessment and Treatment of Juvenile Sex Offenders New York University Press.
Buchbesprechung: In den letzten zwei Jahrzehnten hat die Besorgnis über jugendliche Sexualstraftäter in erstaunlichem Tempo zugenommen, was zu einer hitzigen Berichterstattung in den Medien und zu Fernsehsendungen wie Law & Order geführt hat. Die Reaktion der Amerikaner auf solche Geschichten hat dazu geführt, dass harte rechtliche und klinische Interventionsstrategien, die für schwere erwachsene Straftäter entwickelt wurden, unhinterfragt auf Jugendliche angewandt werden, ohne dass der psychologischen Reife des Straftäters Beachtung geschenkt wird. Viele Strategien, die heute im Umgang mit jugendlichen Sexualstraftätern angewandt werden, und sogar die Kriterien für die Definition des Begriffs „jugendlicher Sexualstraftäter“ sind empirisch nicht belegt und können, wie Frank C. DiCataldo warnt, Kindern und der Gesellschaft mehr schaden als nützen.
Johnson, R. T. (2000). Hands off! The disappearance of touch in the care of children. Peter Lang.
Buchbesprechung:“Berührungsverbot“ wird als eine moralische Panik dargestellt und hinterfragt, die in unserer Gesellschaft weit verbreitet ist. In einem Versuch, das „Berührungsverbot“ neu zu formulieren, wird die Sexualität bei der Bewertung der Identität des Kindes und der Rolle der Betreuungspersonen berücksichtigt.
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