In einem wissenschaftlichen Zeitschriftenbeitrag von 1934 findet sich folgende Falldarstellung:
»Als sie 7 Jahre war, wurde ein Sittlichkeitsverbrechen von einem erwachsenen Manne an ihr verübt. Es bestand in Coitus inter fem. [Schenkelverkehr; montebas], resp. Coitus in vulvam. Der Mann hatte das Mädchen… in ein Gehölz gelockt… Überredung oder Gewalt wurde nicht angewandt. Das Mädchen widerstrebte nicht und erschrak auch nicht. Sie war vollständig passiv. Jedoch hatte eine vorübergehende Frau das Vorgefallene gesehen und zeigte den Mann an. Das Mädchen wurde ärztlich untersucht, und aus dem Gutachten geht hervor, dass ihre Geschlechtsteile intakt waren. Der Mann wurde… zu 9 Monaten Gefängnis verurteilt… War auch früher wegen Sittlichkeitsverbrechen gegen Kinder bestraft.«
»Über das spätere Leben des Mädchens liegen folgende Mitteilungen vor: …zeigte einen ruhigen, ausgeglichenen Gemütszustand und machte immer einen vergnügten und zufriedenen Eindruck… zeigte keine krankhaften psychischen Erscheinungen… Ihre Mutter, die die verbrecherische Handlung fast vergessen hatte, meinte [später, als die Tochter erwachsen war; m.], dass diese keine Wirkung auf ihr Seelenleben hinterlassen habe… Es war nichts abnormes an ihr in Bezug auf ihr Sexualleben, und sie war ruhig und natürlich im Umgang mit dem anderen Geschlecht.«
Das Zitat stammt aus „Acta Psychiatrica Scandinavica“. Autorin war eine Augusta Rasmussen, Oslo. Sie hat wohl die erste grössere quantitative Studie über die Spätfolgen sexueller „Attentate auf Kinder für die Entwicklung von Geisteskrankheiten und Charakteranomalien“ veröffentlicht. Der Titel und auch ihre Kommentare nehmen unausgesprochen Bezug auf Sigmund Freuds Behauptung, dass solch schwere Folgen zu befürchten seien. Wie es scheint, war es Rasmussens Überzeugung, dass Freud gewaltig übertrieben hatte.
Obiger Kasus Nr. 27, geboren 1905, Tochter eines Fischhändlers, war einer von 54 Fällen, die zum Zeitpunkt der Straftaten höchstens 16 Jahre alt waren, bei der Auswertung aber bereits im Erwachsenenleben standen. Sie sind alle um 1900 geboren. Die Resultate der Studie spielen in der heutigen Diskussion keine Rolle mehr, und methodologisch würden sie nicht mehr ernst genommen. Interessieren könnte die Arbeit inzwischen aber als ein kleines Stück Wissenschaftsgeschichte, welches verrät, mit welchen Annahmen man damals an dieses Thema heranging. Durch die Kontraste zu den heutigen, ziemlich unveränderlich gewordenen Hypothesen gibt die Studie eine Ahnung vom Wandel, der seither stattgefunden hat. Um Anhaltspunkte über die Spätfolgen zu gewinnen, hat die Autorin nämlich die Opfer im Erwachsenenalter befragt, oder deren Eltern oder weitere Auskunftspersonen. Dabei hat sie auch auf unsystematisch erhobene Laienurteile abgestellt, was den wissenschaftlichen Wert der Studie zusätzlich mindert. Sie liefert aber gerade dadurch wertvollen Aufschluss über den Wandel der Einstellungen in der Bevölkerung.

Die 54 Fälle, über die Rasmussen Informationen zum späteren Befinden einholen konnte, hat sie ohne Begründung folgendermassen eingeteilt:
Gruppe A – Inzestuöse Fälle (14), hauptsächlich Vater-Tochter.
Gruppe B – Fälle mit einmaligem Sexualkontakt.
- Fälle, wo das Kind Widerstand leistete (5).
- Fälle, wo das Kind während der Handlung vollständig passiv war (13).
Gruppe C
- Fälle, wo die Handlung vom selben Manne zweimal verübt wurde (3 Fälle).
- Fälle, wo ein festes Verhältnis zwischen dem Manne und dem Kinde entstanden ist (13 Fälle).
- Fälle,die den Charakter eines Liebesverhältnisses zwischen dem Mädchen und dem Manne tragen (2 Fälle).
- Fälle, wo das Kind auffordernd und einleitend gewesen ist (4 Fälle).
Die Einteilung sollte wohl einerseits den Schweregrad des Falles widerspiegeln, andererseits auch etwas über den Grad der Zustimmung aussagen. Damit erhebt R. ein Merkmal, welches in der heutigen Forschung kaum noch thematisiert wird. Als Mass für den Schweregrad lässt sie auch den medizinischen Befund nach erfolgter Anzeige gelten. Das meiste Fallmaterial stammt aus dem Archiv der rechtsmedizinischen Kommission, ergänzt um solches aus dem Archiv des Zuchthauses. Im nächsten Schritt hat sie durch Briefwechsel mit den Ärzten Auskunft über das weitere Schicksal der Probanden einzuholen versucht. „Nur gerichtlich beleuchtetes Material“ hat sie benutzt, „…um die erdichteten Geschichten von Sittlichkeitsangriffen zu vermeiden, die uns von Kindern mit konstitutionell schwächlicher Gemütsart (Imbecile, Hysteriker, Psychopathen) bekannt sind.“ Sie akzeptiert jedoch ohne zu zögern Bewertungen, die dem Geschehenen Harmlosigkeit attestieren.
Hier nun ein Beispiel aus der Gruppe A (Inzest):
»Kasus Nr.2…sagten der Vater und das Kind aus, dass ersterer seit mehreren Jahren Unzucht mit dem Kinde getrieben habe. Diese hatte regelmässig stattgefunden, bis zu mehreren Malen im Monat, seit dem 6. Jahre des Kindes. Sie bestand teils in Coit. vestib. [vestibulum; Scheidenvorhof] und Coit. inter fem., teils in Digital[Finger-]berührung der Genitalien des Kindes. Gewalt wurde niemals angewandt. Der Vater meint aber, verstanden zu haben, dass die Behandlung das Kind schmerzte. In der Regel ging das Kind ohne Einwendungen auf seine Behandlung ein – zum Teil lockte er sie auch mit Näschereien – im übrigen durfte sie ihm nicht zuwider sein. Das Kind wurde… ärztlich untersucht, und aus dem Gutachten… geht hervor, dass ihr kein körperlicher Schaden zugefügt wurde und ihre Genitalien intakt (jungfräulich) waren. Der Vater wurde vom Gericht… zu 3 Jahren Gefängnis verurteilt.
»Über dieses Mädchen – jetzt 35 Jahre alt – habe ich folgende Auskünfte erhalten: Sie ist mit einem Betriebsaufseher verheiratet, hat ein hübsches Heim und mehrere Kinder; sie ist ein ordnungsliebender Mensch… es sollen keine Symptome nervöser Störungen bei ihr wahrzunehmen sein. (Diese Aufklärungen stammen aus sehr zuverlässiger Quelle.)«
Viel Gewicht legt Rasmussen auf den Zustand der Genitalien. Das hat wohl einerseits damit zu tun, dass sie Seriosität durch Nähe zur Medizin sucht. Einer möglichen Defloration misst sie aber auch psychische Qualität zu:
“Defloration, durch verbrecherische Handlungen entstanden, muss als traumatisch angesehen werden, selbst wenn sie an und für sich eine physiologische Erscheinung ist.” (S.370).
Den Ausdruck Trauma verwendet sie nur in diesem Zusammenhang, woraus letztlich zu folgern wäre, dass nur bei Defloration psychische Schäden zu erwarten sind, was sie aber so nirgends aussagt. Diese Fokussierung auf den Zustand der Jungfernhaut lässt sie unter anderem folgenden Fall in fast komisch wirkender Detailliertheit schildern:
»Kasus 38. Von ihrem 10. Jahre an war sie wiederholten Sittlichkeitsverbrechen von seiten eines erwachsenen Mannes ausgesetzt. Diese bestanden in… wiederholten Digitalberührungen ihrer Genitalien und 2 Coitusversuchen, die letzteren zwischen ihrem 12. und 13. Lebensjahre… Bei der Untersuchung fand man ihre Genitalien etwas irritiert… ausserdem eine auffallende Dehnbarkeit der Jungfernhaut und abgestumpftes Gefühl in den Geschlechtsteilen… Man konnte mit Leichtigkeit einen gewöhnlich dicken Zeigefinger… einführen… Das Gefühl der Haut war dagegen nicht geschwächt. In der Jungfernhaut wurden keine Narben nachgewiesen, auch nicht andere Zeichen von Gewaltanwendung. Die Konklusion ergibt die Annahme, dass verhältnismässig dicke Körper durch die Öffnung der Jungfernhaut eingeführt worden sind, und dass jetzt wahrscheinlich ein nicht gar zu kräftig entwickeltes männliches Glied, ohne Zerreissen zu bewirken, in ihre Scheide eindringen könnte. Ein vollständiger Beischlaf liess sich nicht feststellen, man hatte aber nichts gefunden, was dies verneinen lasse, und ebenso dass einem solchen eine allmähliche Erweiterung derGeschlechtsteile vorausgegangen sei.«
»[Der Täter] wurde nach 1-jähriger Gefängnisstrafe auf Probe freigelassen. Über das spätere Leben des Mädchens: Sie ist unverheiratet… Mitglied der Heilsarmee und bekleidet hier höhere Posten… Ihr Heim ist hübsch und gut… [Sie] macht einen ruhigen, beherrschten Eindruck… soll auch etwas nervös sein, es ist ihr aber im Laufe der Jahre soviel zugestossen, dass es mehr als zweifelhaft erscheint, dies auf das Konto des Sittlichkeits Verbrechens schreiben zu können. Nach Ansicht der Mutter hat das Mädchen keinen Schaden von der Affäre gehabt.«
Soziale Verhältnisse
Aus vielen Schilderungen gewinnt man auch einen Eindruck von sehr bedrängten sozialen Verhältnissen, die den Tathergang begünstigten:
»Kasus Nr. 39 – Von ihrem Lehrer erhält sie das beste Zeugnis, sowohl was die Schule betrifft als auch ausserhalb derselben. In ihrem 11. Lebensjahre hatte ein junger Mann 5-6 Mal Coitus vestib. mit ihr. Der Mann… hatte seit… Monaten das Schlafzimmer mit dem Mädchen, einem… Dienstmädchen und einem Knecht geteilt. [Er] hatte sein eigenes Bett, hatte sich aber, wenn beide allein waren, in das Bett des Mädchens gelegt. Das kleine Mädchen fragte anfangs, was er wollte, leistete aber keinen Widerstand. Später liess sie es ohne Widerspruch geschehen. Sie erzählte einer Freundin von dem Verhältnis, schliesslich kam es dem Lehrer zu Ohren und die Schulverwaltung meldete es der Behörde…«
»In dem Gutachten heisst es, dass sie… gesund aussähe und weder Schmerzen hätte noch sich nach den Coitusversuchen unwohl gefühlt habe. [Es] ist bemerkt, dass die Schleimhaut etwas rötlich… war, nach der Meinung des Arztes möglicherweise die Folge der Beischlafversuche. Keine entzündungsartige Sekretion, keine Anschwellung. Hymen ganz und unbeschädigt. Kein Zeichen von Gewalt. Der Mann war 26 Jahre alt… zu 25 Tagen Wasser und Brot verurteilt.
»Über das spätere Leben des Mädchens: Sie bekam, als sie erwachsen war, ein uneheliches Kind. Verheiratete sich dann mit einem Arbeiter, und das Verhältnis zwischen den Eheleuten soll ein gutes sein. Sie haben mehrere Kinder. Die Familie des Mädchens ist väterlicherseits »stark nervös belastet«. Ein Bruder ist geisteskrank, der Vater sowie eine ihrer Schwestern sind »sehr nervös« und stehen auf sehr niedrigem geistigen Niveau. Es sind 6 Geschwister und das Mädchen zählt zu den »besseren« derselben.«
„Näschereien“ und Geld
In Gruppe C tauchen auch zwei ringartige Strukturen auf. Beide drehen sich um die Erhältlichkeit von “Näschereien”. Deren “verbrechenserleichternde” Bedeutung lässt sich heute wohl nicht mehr ohne weiteres nachvollziehen, aus dem Täterklischee sind solche Lockmittel weitgehend verschwunden. Der erste Ring umfasst die Fälle Nr. 40 und 41:
»Kasus Nr.40 – Als sie ungefähr 10 Jahre alt war, beging ein älterer Mann Sittlichkeitsverbrechen an ihr. Es bestand in wiederholtem Coitus in vulvam, sowie häufigen Digitalberührungen ihrer Genitalien. In der letzten Zeit vor der Anzeige geschah dies wöchentlich mehrere Male. Das Mädchen war, sowohl im Anfang als später, willig. Sie gab an, dass die unzüchtigen Handlungen zum Teile schmerzhaft gewesen seien, dass sie aber damit einverstanden gewesen sei, um Geld zu »Näschereien« zu bekommen. Sie erhielt 5-25 Pfg… Später wiederholte er [die Handlungen], indem sie unaufgefordert zu ihm kam. Es war allgemein, dass Kinder zu ihm kamen, um kleine Dienste im Laden zu tun, wofür sie Geld oder Näschereien bekamen. Die Strafsache kam dadurch ans Licht, dass die Lehrerin Verdacht schöpfte, als in der Religionsstunde soviel über den Mann gesprochen wurde. Sie stellte Kasus 40 und den unten beschriebenen Kasus 41 zur Rede. Beide gestanden ein, dass der Mann sich unzüchtig gegen sie betragen habe, und dieser wurde an gezeigt.«
»Über Kasus 40 ist später mitgeteilt: Ihre Stiefmutter… hat nichts an ihr bemerkt, was… darauf zurückführen könnte. In der Schule war sie tüchtig. Mit 21 Jahren verheiratete sie sich… hat mehrere Kinder. Der die Familie behandlende Arzt hat nichts auffälliges an ihr bemerkt.«
»Kasus Nr. 41. – 11 Jahre alt, als das Verbrechen stattfand. Es bestand in gelegentlichen Digitalberührungen ihrer Genitalien. Das Mädchen war willig. Auch sie erhielt Geld und »Näschereien« von dem Manne. Sie kannte den Mann, seit er vor einigen Jahren bei ihren Eltern zu Miete wohnte. Kasus 41 und Kasus 40 erzählten sich gegenseitig das Vorgefallene. Der Mann war 46 Jahre alt… 1 Mal vorbestraft… zu 9 Monaten Gefängnis verurteilt.«
» Ihre Mutter hat mitgeteilt, dass sie nichts auffälliges an ihr nach der Affäre bemerkt hat. Sie war ein Durchschnittskind.«
Und hier der zweite Ring:
»Kasus Nr. 42. – 6 Geschwister, 2 Brüder wegen Diebstahls angezeigt. Das Mädchen wird als diebisch mit lügnerischem… Charakter geschildert… Als sie 14 Jahre alt war, beging ein wegen Sittlichkeitsverbrechen vorbestrafter Mann dasselbe Verbrechen gleichzeitig an ihr, ihrer 12-jährigen Schwester und einer 14- jährigen Freundin (Kasus 43 & 44).«
»Die Handlung fand bei allen wiederholt statt. Bei Kasus 42 bestand sie in… Digitalberührungen ihrer Genitalien. Hierzu war sie stets willig, protestierte aber, als er Coitusversuch vorschlug. Coitus fand dagegen in ihrer Gegenwart bei den beiden anderen statt. Bei allen 3 Mädchen geschah das Verbrechen dadurch, dass sie den Mann freiwillig aufsuchten, um Geld zu erhalten; es ging nämlich die Rede davon, dass der Mann kleinen Mädchen Geld schenkte. Es wurde bekannt, weil die Schule, in welcher diese Gerüchte gingen, das Mädchen beim Wohlfahrtsamt meldete… wurde nicht ärztlich untersucht. – Es wurde beschlossen, sie in einer Besserungsanstalt unterzubringen…«
»Die Schwester, Kasus 43. – Bei Entstehen des Strafverfahrens 12 Jahre alt. Von der Schule wird mitgeteilt, dass sie 1 Mal gestohlen hat. Bei ihr bestand das Verbrechen in einem Coitusversuch und 1 Mal Digitalberührung… Auch sie war beide Male willig… nicht ärztlich untersucht.«
»Kasus Nr. 44. – Bei Entstehen der Strafsache 14 Jahre alt… Vater tot. Die Mutter hatte ihr verboten, zu dem Manne zu gehen. Das Verbrechen bestand bei ihr in 2-maligem Coitusversuch. Das eine Mal war sie bei dem Manne zusammen mit Kasus 43. Auch sie war willig. Nicht ärztlich untersucht. Bei keinem der Mädchen scheint der Mann gewalttätig vorgegangen zu sein. Die Aussagen in den Akten sind zu spärlich dazu, sich ein Urteil darüber bilden zu können, ob bei Kasus 43 und 44 ein vollgezogener Coitus stattgefunden hat, oder nicht. Der Mann war 73 Jahre alt, Gelegenheitsarbeiter… zu 3 Jahren Gefängnis verurteilt [mehrfach vorbestraft].«
»ÜberKasus 42 liegen folgende Auskünfte vor: Sie meint selbst, dass die Sache für sie keine Folgen gehabt hat. Ihre Schwester, Kasus 43… meint selbst, dass die Sache für sie keine Folge gehabt hat.«
»Über Kasus44: ihre Freundin (Kasus 43), die sie gut kannte, berichtet, dass die Sache sicher ohne Bedeutung für sie gewesen ist.«
Nicht ohne Schmunzeln nimmt man sodann von solchen kindlich-unschuldigen Lernprozessen Kenntnis:
»Kasus Nr.45 – Bei Entstehen der Strafsache 101/2 Jahre alt. Die Eltern entdeckten eines Tages, dass das Mädchen in unziemlicher Weise mit anderen Kindern »Vater und Mutter« spielte. Auf die Frage der Mutter… antwortete sie, dass ein Mann »es sie gelehrt hatte«, und als die Mutter weiter forschte, beschrieb sie das unzüchtige Benehmen des Mannes. Die Eltern brachten ihn zur Anzeige. Die Unzucht bestand in 4-maligem Coitus inter fem.,(möglicherweise Coitus vestib.) mit dem Mädchen, als sie 10 Jahre alt war. Der Mann war jedesmal mit dem Mädchen nach einer kleinen Insel gerudert, und hier fand die Unzucht statt. Das Mädchen bekam Chokolade undBonbons, um sich zu fügen. Weder das erste noch die späteren Male leistete sie Widerstand. [Mann, 58, zu 50 Tagen Gefängnis verurteilt.]
»Über das spätere Leben des Mädchens: …mit einem Arbeiter verheiratet… war mit ihm an gesetzwidrigem Alkoholverkauf beteiligt… hat mehrere Kinder. Sonst ist nichts an ihr zu merken.
Das folgende Mädchen war, wie es scheint, doch eher ambivalent eingestellt, hat sie doch später ihre Stelle gekündigt:
KasusNr.46… hat manchmal von verschiedenen jungen Burschen, die ihr Annäherungen gemacht haben, erzählt. Sie hat keinen schlechten Ruf. Im Alter von 11 Jahren war sie Kindermädchen bei einem Arbeiter, der sich unzüchtig gegen sie benahm. Dies bestand in wiederholtem Coitus in vulvam. Es erscheint zweifellos, dass das Mädchen schon beim ersten Male willig war. Es machte den Eindruck, als ob sie mit sexuellen Dingen Bescheid wusste, und sie hatte Gelegenheit genug, von dem Manne wegzukommen. Er versprach ihr Geld. Später geschah die Handlung stets ohne Drängen des Mannes. Das Verhältnis dauerte ½ Jahr. Die Strafsache entstand, weil das Mädchen sich weigerte, ihre Stellung als Kindermädchen fortzusetzen und dies mit den obenerwähnten Verhältnissen begründete, worauf die Mutter den Mann anzeigte. «
»Aus… der ärztlichen Untersuchung geht hervor, dass sie keinen körperlichen Schaden erlitten hat, dagegen werden die gewöhnlich vorkommenden Veränderungen infolge häufigen Coitus in vulvam nach gewiesen. [Mann, 30, zu 3 Jahren Strafarbeit verurteilt, vorbestraft – 3 Mädchen geschwängert]. «
»Über das spätere Leben des Mädchens: Ihr geistiges Niveau ganz gewöhnlich. Auf Ausschweifungen sexueller Art scheint sie sich als Erwachsene nicht eingelassen zu haben. …verheiratet. Das Verhältnis zwischen den Eheleuten ist gut. Wohlstand. Sie hat 5 Kinder… hat 6 Aborte… gehabt. Abgesehen hiervon ist sie körperlich gesund gewesen.«
Elterliche Bewertungen
In mehr als einem Fall bewertete der Vater die Sache als geringfügig und folgenlos:
»KasusNr. 47… Seit ihrem 13. Lebensjahre hat ein bestimmter Mann mehrere Male Unzucht mit ihr getrieben. Das Verbrechen bestand teils in Coitus, teils in unzüchtiger Berührung. Schon das erste Mal liess sie es freiwillig geschehen, entblösste sich selbst u.s.w., und später hat sie sich ihm mehrmals für Geld angeboten. Die Strafsache entstand dadurch, dass eine Frau, die begründeten Verdacht gegen den Mann hatte, ihn anzeigte. Das Mädchen wurde… ärztlichuntersuchtund kein körperlicher Schaden, aber Defloration festgestellt. [Mann, hatte sich gleichzeitig gegen ein anderes kleines Mädchen vergangen, 100 Tage Gefängnis.] ÜberdasspätereLebendesMädchens ist mitzuteilen: Sie reiste jung nach Amerika, besuchte dort eine Handelsschule und hat jetzt eine ausgezeichnete Bürostellung in New York… nicht verheiratet. Ihr Vater bezeichnet heute das Verbrechen als »Unsinn« und hat keinen schädlichen Einfluss desselben an ihr bemerkt.
Starkes involvement des Mädchens – Milde bei der Strafverfolgung:
»KasusNr. 48… In ihrem 8. Jahre war sie wiederholten Sittlichkeitsverbrechen von einem älteren Manne ausgesetzt. DieVerbrechen bestanden in Digitalberührung ihrer Geschlechtsteile und 5-maligem Coitus in vulvam. Das Mädchen kannte den Mann seit ihrer Kindheit und war es gewöhnt, von ihm geliebkost zu werden. Bei der Handlung war sie vollständig passiv. Sie hatte einigen erwachsenen Mädchen erzählt, dass er »sie gebraucht « habe — und dass sie es noch öfter tun wollten«. Einmal lauerten daher die Mädchen den beiden auf und waren Zeugen des Auftritts. Die Sache wurde jedoch erst 2 1/2 Jahre später, während eines anderen Sittlichkeitsprozesses, bekannt. Es entstanden Gerüchte über das Benehmen des Mannes, und das Mädchen gestand ihrem Vater dasVorgefallene. Dieser hatte den Eindruck, dass sie kein Verständnis des Vorganges hatte… [Sie wurde] ärztlich untersucht und ihre Genitalien intakt (jungfräulich) befunden. Dem Manne wurde eine ernstliche Warnung und Ermahnung erteilt, und die Sache wurde niedergeschlagen, weil seit der Verübung des Verbrechens 2 1/2 Jahre vergangen waren und die Eltern des Mädchens keine Anklage verlangten. Der Mann war 67 Jahre alt, als das Verbrechen stattfand; unverheirateter Fischer, nicht vorbestraft.«
»Über das Mädchen wird später berichtet: Mit 15 Jahren erkrankte sie an Lungentuberkulose und starb im Alter von 20 Jahren. Der Vater erklärt, nie einen Einfluss des Verbrechens an ihr bemerkt zu haben.
„Fälle, wo das Mädchen die auffordernde oder einleitende war (Gruppe C IV).“
»Kasus Nr.51… Seit ihrem 12. Jahre ist sie im Hafen auf die Schiffe gegangen, um Kuchen zu verkaufen. Sie hat einen schlechten Ruf. Die Strafsache entstand infolge einer Anzeige der Schule bei der Polizei wegen Unzucht eines bestimmten Mannes an dem Mädchen und ihrer Freundin. Das Verbrechen bestand in wiederholtem Coitus. Das Mädchen bekannte selbst vor Gericht, dass sie von ihrem 13. Jahre ab Prostitution getrieben habe, um Geld zu bekommen. Sie behauptet, das erste Mal vergewaltigt worden zu sein… später hat sie sich mit vielen erwachsenen Männern eingelassen…Das Gutachten lautet, dass sie defloriert war und an einer mehrere Monate alten Gonorrhoe litt. [Mann, 47, zu 8 Monaten Gefängnis verurteilt-hatte sich gleichzeitig gegen ein anderes kleines Mädchen vergangen.]«
»Über das spätere Leben des Mädchens: …kam… in eine Besserungsanstalt, wo sie 2 Jahre war. In der ersten Zeit war ihr Betragen schlecht, sie war »frech« und »roh«, wurde aber allmählich besser… nahm ein nettes Wesen an und »sah aus wie eine Dame«. Mit 22 Jahren schrieb sie einen reizenden Brief an die Leiterin der Anstalt, dankte für die Zeit ihres Aufenthaltes und erzählte, dass es ihr ausgezeichnet gehe und sie sich mit einem braven Manne verheiraten werde.«
»KasusNr.52… Die Eltern gehören zu einer… Dissidentengemeinde und das Mädchen hat »eine Art Religionsunterricht« erhalten. Sie ist umhergegangen und hat religiöse Traktate verkauft. Seit ihrem 10. Jahre ist sie unsittlich gewesen und trieb in den darauffolgenden Jahren Unsittlichkeit in grossem Stile. Sie hatte… einen schlechten Ruf… ein ihr bekannter Mann… stellte das Mädchen zur Rede und sie gestand ein, dass sie mit verschiedenen erwachsenen Männern Verhältnisse gehabt habe. Die Eltern wurden… unterrichtet und erstatteten Anzeige gegen 19 Personen… Der erste, mit dem das Mädchen Umgang hatte, war ein verheirateter Mann von ca. 50 Jahren — siewar zu dieser Zeit 9-10 Jahre alt und liess sich jeden zweiten Tag mit ihm ein. Inzwischen bekam sie Kleinigkeiten von ihm, meistens aber nichts.«
»Später hat sie mit mehreren Männern Umgang gehabt, zum Teil mit mehreren gleichzeitig. Weder bei der ersten Cohabitation noch bei den späteren ist Macht angewandt worden. Im Gegenteil hat das Mädchen zur Ausführung der Handlung beigetragen durch einladendes Wesen, sie hat sich sogar zum Teil unaufgefordert entblösst. Manchmal hat sie Geld erhalten. Zu Hause hat sie vorgegeben, das Geld durch Verkauf von Traktaten erhalten zu haben. – Aus [dem]ärztlichenGutachten geht hervor, dass bei ihr die üblichen Zeichen eines wiederholt stattgefundenen Coitus mit Männern gefunden wurden. Anderweitiger Körperschaden war ihr nicht zugefügt. «
»[Von den 19 angezeigten Männern 13 angeklagt, davon 11 verurteilt, 2 freigesprochen. Das Alter der Verurteilten variierte von 16 bis über 60. Strafen: 60 bis 120 Tage Gefängnis. ] „Sämtliche Verurteilte gehören zur Arbeiterklasse.“ «
»Über das spätere Leben des Mädchens:… 4 Jahrein ein[em] Frauenheim. Von hier wird mitgeteilt, dass der Vater des Mädchens sie zur Prostitution angeregt hat… In den beiden letzten Jahren »machte sie sich gut heraus«. Von [dort] wurde sie nach Amerika gesandt, wo sie gute Stellungen hatte. Sie verheiratete sich später mit einem ordentlichen Mann und soll Kinder haben. Sie soll gesund sein und hat zu Weihnachten immer an die Leiterin [des Frauenheims] geschrieben. Diese hat sie einmal in Amerika besucht und den allerbesten Eindruck von ihr empfangen.
Kasus Nr.53… Das Mädchen wurde wegen Schulversäumnis und Fortlaufens von Hause, sowie wegen Unsittlichkeit dem Wohlfartsamt gemeldet… Sie war gegen 13 Jahre alt. Aus den Zeugenaussagen, nicht zum wenigsten aus der eigenen des Mädchens, geht hervor, dass sie mit sexuellen Sachen gut vertraut ist, und dass sie über die Absichten des Mannes, als sie mit ihm ins Gehölz ging, völlig im klaren war. Sie kannte den Mann von früher und liess sich mit Geldlocken. Sie berichtete selbst, dass sie auch früher mit Männern Unzucht betrieben (Coit. vestib.) und dass sie auch Umgang mit einem Knaben in ihrem Alter gehabt habe. (Der Knabe gestand dies ein.) Im ganzen geht aus den Auskünften hervor, dass das Mädchen ziemlich aktiv gewesen ist. Sie wurde… ärztlichuntersucht, hatte keinen Schaden erlitten, und die Jungfernhaut war intakt… Mann (44)… zu 60 Tagen Gefängnis verurteilt.
Zusammenfassung und Konklusion
Als erstes weist Rasmussen auf die soziale Herkunft ihrer Stichprobe hin: „Die meisten der Kinder sind Töchter kleiner Leute, und die Verurteilten gehören derselben Klasse an.“ Dies ist soweit nur eine Routine-Information. Doch Rasmussen scheint damit etwas mehr zu verknüpfen. Sie schreibt über die Fälle mit einmaliger Handlung: „Das passive Verhalten der Kinder ist vollständig auf das vorsichtige Auftreten des Mannes in Verbindung mit dem kindlichen natürlichen Vertrauen(es waren Männer ihres eigenen Standes und zum Teil Bekannte von früher), teils auch in Neugierde und Erfahrungsdrang zu suchen.“
Die Zugehörigkeit zur selben Schicht ist nach ihrer Ansicht Teil des ganzen Musters, und es erklärt auch, dass diese Kinder „keinen seelischen Schaden erlitten haben.“ Dazu später mehr. „In 25 Fällen handelt es sich um Verbrechen der „Blutschande“. In 7 Fällen müssen die Mädchen als Strassenmädchen charakterisiert werden. In den meisten Fällen wird das Kind verleitet und mitgelockt.“
Dies entspricht einem Täterklischee, welches viel später, mit Beginn der Aufklärungskampagnen in den 80er Jahren, systematisch und allmählich erfolgreich bekämpft wurde. Möglicherweise zu recht, es könnte vielleicht neuerer Realität in dieser simplen Form nicht mehr entsprechen, wenn man bei „verleitet und mitlockt“ an Näschereien denkt. Und auch dies passt in das inzwischen aufgegebene Bild: „In ziemlich vielen Fällen „,,,lässt das Kind für Geld dieselbe Person die Handlung wiederholen – oft häufig, sodass gewissermassen ein sexuelles Verhältnis zwischen dem Kinde und dem Manne entsteht.“
Im Laufe der 80er Jahre wurde „Verführung“ durch „Missbrauch“ ersetzt, und das Delikt wurde unter Misshandlung eingereiht und in die Nähe von Gewalt gerückt. Diese Begrifflichkeit hat jede Vorstellung eines auch nur minimal interessierten Kindes getilgt. Ob dies zu Recht geschehen ist, scheint vor allem in den Fällen fragwürdig, wo die Kinder wiederholt zum Täter gehen, und wo sie dies selber mit der Aussicht auf Naschzeug begründet haben. Gut möglich, dass jenen Kindern kleine Süssigkeiten mehr bedeuteten als heutigen Kindern. Aber die heutige Sicht lässt schlicht keine Frage nach der Motivation des Kindes mehr aufkommen, weder in der Forschung, noch in der Gerichtsberichterstattung, und schon gar nicht in den Aufklärungs- und Alarmierungskampagnen der Kinderschutzagenturen. Sie ist durch die alles einschliessende Gewaltformel gleichzeitig beantwortet und unterdrückt.
Wenn dieser Handel „Zückerchen gegen sexuelle Gefälligkeiten“ für die Kinder akzeptabel war, so muss auch gefragt werden, wieviel sie auf ihrer Seite in die Waagschale werfen mussten. Man erinnert sich dann, solche Wendungen gelesen zu haben wie „tat etwas weh“ (S.383), oder… „zum Teile schmerzhaft gewesen“ (Kasus Nr.40). Grösseres Format scheinen die unmittelbaren Folgen und Begleiterscheinungen kaum angenommen zu haben, es sei denn, man wolle Schlafstörungen solches Gewicht geben. Das tut man heutzutage unter Umständen, doch ist in keinem der obigen Fälle von schweren solchen die Rede.
Einer bestimmten möglichen Folge widmet Rasmussen jedoch grosse Aufmerksamkeit: „Abgesehen von [einem einzigen Fall] wurde nämlich bei der ärztlichen Untersuchung in einigen Fällen [gar] keine traumatische Spur der Handlung und in den übrigen nur ein regulärer Riss in der Jungfernhaut gefunden.“ Einer Defloration würde sie nur dann grosses Schadenspotenzial zusprechen, wenn sie im Rahmen einer Vergewaltigung geschieht. Dass dies nicht der Fall war, dürfte für sie mit erklären, warum alle Fälle psychisch folgenlos blieben. Aus heutiger Sicht bleibt anzumerken, dass es sich in ihrem Material fast durchwegs um mittelschwere Fälle, also solche mit klar sexueller Manipulation, meistens mit Koitus, aber ohne Penetration, handelt. Und in dieser „Gewichtsklasse“ würde es heute sehr erstaunen, wenn nicht als unglaubwürdig empfunden, fast gänzlicher psychischer Folgenlosigkeit zu begegnen.
Das Interesse der Autorin gilt dabei durchaus den „nervlichen“ oder psychischen Langzeitfolgen. Wie gesagt dürfte sie dabei die damals neue, nicht unwidersprochene Theorie Freuds im Visier gehabt haben, wonach eine enge kausale Beziehung zwischen sexuellen Kindheitserfahrungen mit Erwachsenen und Geisteskrankheiten sowie Neurosen besteht. Solch erheblichen Störungsbilder findet Rasmussen zwar keine, jedoch in grosser Zahl auftretende „Nervosität“. Der Ausdruck „nervös“ war zwar damals schon Alltagssprache. Wenn aber Rasmussen floskelhafte Laienbeschreibungen übernimmt, so hätte sie ihnen genauer nachgehen müssen. Auch wenn damals von Störungsbildern wie dem erst viel später entdeckten PTBS nichts bekannt war, hätte ihr doch dämmern müssen, dass hinter solchen harmlosen Beschrieben sich mehr verbergen könnte. Rasmussen notiert zwar diese Auskünfte gewissenhaft, misst ihnen aber keinerlei Bedeutung zu.
Hingegen sieht sie „…bei einer Reihe von Kindern die Gefahr…, moralisch zu versumpfen, indem sie, dank der Leichtigkeit, mit der sich dasVerbrechen wiederholen lässt, in ein festes sexuelles Verhältnis hineingeraten sind.“ Jedoch: „Die Nachuntersuchungen… haben erwiesen, dass die meisten der in diese Gewohnheit gekommenen Kinder – nachdem infolge der Strafsache diese schwülen Verhältnisse aufgerüttelt waren – auf schickliche Weise in der Welt vorwärts kamen, ohne psychisch krankhafte Erscheinungen.“
Insgesamt kommt die Autorin zum Schluss:
»Krankhafte Wirkungen auf das Seelenleben infolge der Handlungen hat man in diesem Material überhaupt nicht nachweisen können.«
Als Grundlage für diesen Schluss dienen ihr Aussagen wie „es geht ihr gut“, Solche höchst generellen, an keinem genauen Kriterium festgemachten Aussagen vermögen nun zwar weder wissenschaftlichen noch medizinischen Ansprüchen zu genügen, sind aber nicht ganz ohne Informationsgehalt. Bei schwerer psychischer Beeinträchtigung hätten sich wohl früher oder später auch für Laien erkennbare Folgen einstellen müssen, die teils eine Hospitalisierung erfordert und/oder ein normales Zusammenleben und Rollenerfüllung verunmöglicht hätten, was in keinem der 54 Fälle berichtet wurde. Klar ist aber auch, dass Rasmussen mit solcher „Evidenz“ die ganze Breite von Symptomen unterhalb der Schwelle grobmaschiger, oberflächlich gemessener Sozialintegration (also z.B. PTBS, Angstattacken, leichtes selbstschädigendes Verhalten, Depressionen, Sexualprobleme, kaum erfassen kann. Ein Befund wie „erhöhte Häufigkeit verschiedener schwacher Symptome“ kann bei ihr gar nicht erscheinen.
Ferner kann bei ihren Auskunftsquellen auch Verheimlichung nicht ausgeschlossen werden. Bei Familienangehörigen könnte eine Art Familienscham und ein Bedürfnis, Normalität vorzuweisen, dahin gewirkt haben.
Andererseits liegt in den teils im Wortlaut wiedergegebenen Auskünften etwas von dem, was die Studie interessant und sozialhistorisch wertvoll macht. Manche geben uns Einblick in die Bewertungen durch damalige Eltern – mehr als das: sie geben uns eine Ahnung davon, wie sie direkt auf die psychische Verarbeitung durch die Kinder Einfluss nahmen. Vielleicht werden wir da Zeugen einer Tendenz zum Herunterspielen der Folgen, und damit vielleicht zum wirksamen Herunter-Moderieren der Wirkung beim Kind; durch Zureden, dass „es nicht so schlimm gewesen“ sei; durch Beruhigen, Zuversicht geben. Durch Massnahmen also, die durchaus im Bereich normaler elterlicher Erlebnisbewertungs- und Verarbeitungshilfe liegen. Das muss nicht auf eine Unterdrückung des spontanen kindlichen Empfindens hinauslaufen (auch wenn die Gefahr gegeben ist). Es muss nicht heissen, den normalen Ausdruck von Schmerz zu unterdrücken. Aber Eltern wissen, dass ihre Bewertungen auf die vom Kind empfundene Erlebnisqualität Einfluss haben können. Sie wissen, dass man die Grössenordnung auch aufblähen kann, und dass Kinder eine Tendenz dazu haben. Eltern wenden da die alte Strategie des „Blasens bei Bobo“ an, um dann zu versichern: „jetzt tut es nicht mehr weh“.
Vielleicht galt damals in der Osloer Arbeiter- und Handwerkerschicht der Wert des „Nicht Empfindlich seins“, des „Etwas Ertragen könnens“. Nicht, dass wir das als beste Reaktion bei Kindesmissbrauch empfehlen möchten – und schon gar nicht als alleinige. Und nichts gegen eine Aufarbeitung durch eine gute Therapie, im Gegenteil. Aber vielleicht haben eine offene Darstellung des Geschehenen durch die Kinder, ein offenes, sachliches Eintreten der Eltern darauf (wenn man das für jene Zeit annehmen kann) ähnlich gewirkt, wie eine heutige Konfrontationstherapie? (Wenn nicht massenhaft mittelstarke oder schwache Symptome unnotiert durch die Rasmussen’sche „Messanlage“ geschlüpft sind.)
Rasmussen präsentiert selber noch eine Erklärung für die von ihr festgestellte RESILIENZ, die in ähnliche Richtung geht: „Beim Durchlesen der Akten…
…sei ihr aufgefallen, „wie viele dieser Kinder von den sexuellen Verhältnissen wussten. Man kann sich wohl fragen, ob dieses Wissen die Kinder vielleicht vor der psychischen Wirkung des Verbrechens bewahrt haben kann.“
„Von den sexuellen Verhältnissen wussten“ – damit meint sie wohl nicht, dass sie nach heutigen Massstäben aufgeklärt waren, sondern eher, dass sie im Kindesalltag (und von der „Strasse“, aber auch durch das enge Zusammenwohnen) allmählich erworbenes Sexualwissen hatten. Dies könnte den Überraschungs- und Schreckenseffekt gedämpft haben, könnte andererseits auch Neugier geweckt haben, welches die Kinder schon auf die Realität sexueller Szenen vorbereitete, und könnte vor allem Bewertungen enthalten haben (etwa, dass sexuelle Handlungen im Kindesalter „etwas sind, das man nicht machen sollte, aber auch etwas, was viele halt einfach so machen“ – womit auch die kindliche Neugier plus das Mit-den-Anderen-gleichziehn-wollen provoziert werden).
Dieses „Wissen“ war wohl kollektives Wissen jener sozial homogenen Kleine-Leuteschicht, in der alles geschah, in der alles eingeschlossen war, die Täter inbegriffen, und es war der durchschnittliche Erfahrungshorizont eines Arbeiterkindes aus Oslo, der Austausch dieser Erfahrungen und dieses „Wissens“ der Kinder untereinander, die Bewertung in der kindlichen Gesellschaft. Vielleicht hat Rasmussen mit ihrem Hinweis, dass die gemeinsame Schichtzugehörigkeit vieles mildere, auch das im Auge gehabt.
Andrerseits darf nicht vergessen werden, in welchem symptomatologischen Bereich und Schweregrad Rasmussen die Folgen untersucht hat. Im Titel ihrer Arbeit macht sie klar, dass sie als allfällige Wirkung Geisteskrankheiten und Charakteranomalien ins Auge fassen will. Dass sie Charakteranomalien nicht gefunden hat, oder gar Geisteskrankheiten, würde auch heute nicht erstaunen. Diese Kalibrierung war durch die Arbeiten Freuds zu erklären, der genau diese Folgen als erwartbar hingestellt hatte. (Ich werde später den Original-Text in voller Länge an anderer Stelle in diesem Blog zum Download bereit stellen.) [montebas.blog]
*) Rasmussen, A. (1934), DIE BEDEUTUNG SEXUELLER ATTENTATE AUF KINDER UNTER 14 JAHREN FÜR DIE ENTWICKELUNG VON GEISTESKRANKHEITEN UND CHARAKTERANOMALIEN. In: Acta Psychiatrica Scandinavica, 9: 351-434. https://doi.org/10.1111/j.1600-0447.1934.tb03687.x
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